Besitzen Sie, lieber Leser ein Tageszeitungs-Abo?
Wenn ja, egal ob daheim oder im Büro: Wie viele Menschen lesen das Exemplar, das auch sie in die Hand nehmen jeden Tag?
Diese Frage ist eine wichtige, will man wissen wie es deutschen Tageszeitungen tatsächlich geht. Kürzlich erschien die Reichweitenmessung Awa. Sie will die tatsächliche Zahl von Lesern ermitteln und geht von der sicher nicht falschen Annahme aus, dass eine Ausgabe nicht selten von mehr als einer Person gelesen wird. Dazu werden rund 21.000 Menschen in Deutschland befragt. (Foto: Shutterstock)
Jüngst nun machten einige Zeitungen bei der Awa irrwitzige Sprünge. Die „Financial Times Deutschland“ verzeichnete ein Plus an Lesern von unfassbaren 45,5% innerhalb eines Jahres. Die „Frankfurter Rundschau“ jubelte über 19,5% mehr Leser, die „Welt“ über 11,9%.
Irre.
Nicht zu glauben.
Denn das wird ja sicher auch bedeuten: Es besteht Hoffnung für die Auflagen. Sie steigen wieder, die Menschen lesen wieder Zeitung, die Anzeigen kehren zurück. Friede! Freude! Eierlikör!
Machen Sie lieber die Flasche wieder zu: Es gibt nichts zu bejubeln.
Genau jene drei Zeitungen, die jüngst bei der Reichweitenmessung so nach oben geschossen sind verlieren deutlich in der Auflage, wie die IVW-Zahlen für das zweite Quartal 2010 zeigen. Und deutlich klingt noch viel zu positiv für die Zahlen, die en detail heute bekannt wurden.
Nun ist es mit den Auflagen ja so: Sie lassen sich inzwischen, sagen wir, beeinflussen. Einst war die Verkaufte Auflage das Maß. Sie enthält Abos und Kioskverkauf, aber eben auch die Bordexemplare für Fluggesellschaften und sonstige Deals die nur einen geringen Teil des eigentlichen Preises erbringen. Weil diese Sonstigen Verkäufe inzwischen so viel Freiräume eröffnen, ist die Summe aus Einzelverkauf und Abo der eigentlich harte Maßstab.
Dieser Maßstab fällt mit den IVW-Zahlen des zweiten Quartals den Verlagen größtenteils wie ein Betonklotz auf den Schädel.
Ordentlich aus der Sache raus zieht sich die „Süddeutsche Zeitung“. Ein büschen mehr Kiosk, ein büschen weniger Abo – insgesamt ein Nullsummenspiel. Ebenso die „Taz“, die am Kiosk zwar mächtig verliert, aber 1,6% Abos gewinnt – das reicht für ein Halten der Auflage.
Doch die beiden sind die Ausnahme.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ verliert 2,2% innerhalb eines Jahres. Die versammelten Zeitungen der „Waz“-Gruppe verkaufen 4,2% weniger. Beim „Handelsblatt“ beträgt das Minus 4,4%. Besonders bemerkenswert ist hier der Einbruch des Kioskverkaufs um 16,6%. Zwar verkauft das Blatt 12 mal mehr Abos als Kiosk-Ausgaben. Aber: Das vollständige Quartal stand unter der Führung des neuen Chefredakteurs Gabor Steingart, der mit wuchtigen Geschichten und steile Thesen auf die Seite 1 hievte.
Und nun kommen wir zu unseren drei Awa-Gewinnern.
Das Minus der „Frankfurter Rundschau“ beträgt 4,5%. „Welt“ und „Welt Kompakt“ verloren 5,2%. Und die „Financial Times Deutschland“ hat ein atemberaubendes Minus von 7% hart verkaufter Auflage in den Büchern.
Nun ist es unfair, die Abo plus Einzelverkauf in Beziehung zur Reichweite zu setzen. Sinnvoller ist es, die Awa-Zahlen mit der verkauften Auflage zu verbinden – denn auch die sonstigen Verkäufe und Bordexemplare werden ja gelesen.
Trotzdem bleibt ein merkwürdiger Spalt in dieser Entwicklung. Die Awa soll ja nun auch irgendwie ein Bild der Entwicklung zeichnen um Werbekunden eine Entscheidungshilfe an die Hand zu geben. Das aber scheint nicht mehr möglich zu sein. Denn wenn Zeitungen deutlich in der Auflage verlieren, gleichzeitig aber die größten Gewinner in der Awa sind – dann verliert das Instrument der Awa seinen Wert. Die IVW beruht auf klaren Zählungen, die Awa ist eine Befragung. Schnell tauchen dann die üblichen Probleme auf: Denn ob alle Mitglieder eines Hauses, die gelegentlich die Zeitung lesen, diese auch tatsächlich täglich zur Hand nehmen ist fraglich. Wenn derartige Sprünge in den Reichweitenzahlen entstehen muss man auch fragen, ob die Zusammensetzung der Befragten geändert wurde – und ob dies zum Guten oder Schlechten war.
Die IVW ist da die deutlich härtere Währung. Und sie signalisiert: Das Siechtum der Tageszeitung gewinnt an Geschwindigkeit.
Kommentare
Fritz 20. Juli 2010 um 17:55
Sehr interessant. Alle Rettungsversuche wie Tabloid-Format und neue Titelseiten-Philosophie scheinen nicht zu langen.
Wenn man über die Gründe nachdenkt, sollte man nicht zu kurz springen. Das Internet scheint eher der Katalysator des beschleunigten Verfalls zu sein als die Ursache. Schon seit 20 Jahren wachsen den Zeitungen ja immer weniger Leser nach. Das deutet darauf hin, dass das Interesse an aktiver Informiertheit gesamtgesellschaftlich kontinuierlich abnimmt – parallel zum Aufstieg von Privat-TV und Trivial-Nachrichten aller Art. Oder anders ausgedrückt: Die Leute laufen nicht nur den Zeitungen davon, sie laufen all den Informationen davon, die mit einem gewissen journalistischen Anspruch aufbereitet und vermittelt werden. Auch die Nachrichten-TV-Konzepte sind ja mehr oder weniger gescheitert. Der neue Frauenkanal „sixx“ bringt das, was die Mädels interessiert, und Nachrichten gehören selbstverständlich nicht dazu. Es soll ja Spaß machen. Zeitungen und selbst die Zeit versuchen ja auch schon mit großen Bildern über dem Knick so zu tun, als würde bei ihnen die Lust am Lesen zum Zuge kommen – aber all das reicht nicht mehr. Angesichts dieser psychischen Grundtrends ist das Internet nur noch so etwas wie der Sargnagel. Ich bin allerdings überzeugt, dass die meisten Nicht-Zeitungsleser auch im Internet von den entsprechenden Informationsquellen wenig Gebrauch machen, sondern sich nur noch auf dem Niveau von t-online und web.de informieren. Niveau: Kontinuierlich sinkend gemäß der Click-Response.
MrB 21. Juli 2010 um 8:44
Hi, meine Erfahrung mit Mediaagenturen ist, dass sie nicht allein auf IVW-Zahlen oder nur auf AWA oder nur auf LAE blicken, sondern die unterschiedlichen Positionierungen berücksichtigen. Wenn beispielsweise krisenbedingt in Unternehmen gelesene Zeitungen wie zB Handelsblatt, FTD, FAZ Abonennten verlieren, aber dafür die Zahl der Leser steigt (recht typisch: statt Einzelabos gibts nur noch Abteilungsabos etc.), dann wäre mir aus Anzeigenkundensicht das relativ (natürlich nicht ganz) egal, ob die weniger Abos verkaufen – Hauptsache, die Leute sehen meine Anzeigen.
Zum Zweiten haben viele Zeitungen massive Preiserhöhungen durchsetzen können. Die FAZ beispielsweise hat es geschafft, die Verkaufserlöse deutlich zu steigern – sprich: mehr durch die Erhöhung gewonnen als durch Aboverluste verloren. In einer Phase, in der Marketingbudgets krisenbedingt deutlich schrumpfen kann diese Strategie helfen, Verluste abzufedern. — Das alles ändert nichts an dem Gesamtbild, dass Print mehrere große Probleme hat; aber es erklärt vielleicht, warum Print sich deutlich besser hält als oft vorhergesagt. (Und es noch immer einen Haufen Verlage gibt, die zweistellige Umsatzrenditen einfahren…)
Thomas Knüwer 21. Juli 2010 um 8:51
@MrB Wenn Sie mich so verstanden haben, dass Media ausschließlich auf Basis der Awa gebucht wird – dann ist es ein Missverständnis.
Meine Bemerkungen bezogen sich auf die andere Seite: Die Awa hat das Ziel, Mediaagenturen und Werbekunden zu informieren. Aus meiner Sicht aber sind die Zahlen bei solch dramatischen Differenzen nicht mehr zu gebrauchen.
MrB 21. Juli 2010 um 8:57
Ok, danke für rasche Antwort. Geb Ihnen recht: Die AWA-Sprünge sind wirklich „bemerkenswert“ – wüsste auch gerne, was dahinter steckt. Frage in die Runde: Hat schon mal jemand ne Aufstellung der profitabelsten, schnellstwachsenden Verlage aufgestellt/gesehen? Würde mich mal interessieren, wer das ist und was die richtig machen (immer liest man nur von Landlust als Erfolg). Danke!
Thomas Knüwer 21. Juli 2010 um 9:01
@MrB So eine Aufstellung wäre echt toll. Leider ist sie nicht seriös machbar. Denn während die Verlage ansonsten auf Transparenz pochen verstecken sie ihre eigenen Bilanzen lieber. Es gibt dann nur die Konzern-Veröffentlichungen, die meist nicht wirklich weiterhelfen.
Thomas Knüwer 21. Juli 2010 um 9:09
@Fritz: Sie legen Ihrem Kommentar allerdings die Meinung zugrunde, die Qualität des Journalismus habe sich gehalten. Ist dem so? Ich empfehle da gern auch das aktuelle Beispiel: http://www.stefan-niggemeier.de/blog/chronisch-krank/
Marcus 21. Juli 2010 um 10:35
Passender Beitrag dazu – nicht nur in D geht den Verlagen der A**** auf Grundeis 🙂
Google takes the FTC to school
http://www.buzzmachine.com/2010/07/20/google-takes-the-ftc-to-school/?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed%3A+buzzmachine+%28BuzzMachine%29
Doro P. 22. Juli 2010 um 9:25
Sachliche Kritik: Auf mich wirken die Beiträge in diesem Blog – gerade in jüngster Zeit – leider so, als ob hier auf Teufel komm raus die These „Zeitungsverlage sind auf dem absteigenden Ast“ untermauert werden soll. Sicher gibt es eine Menge Indizien für diese These, aber eine differenziertere Auseinandersetzung wäre wünschenswert. Hier aber werden immer wieder selektiv Fakten herangezogen und entsprechend (um-) interpretiert bzw. passend gebogen. Ich weiß nicht, wie es den anderen Lesern des Blogs geht, aber mich nervt das.
Fakt ist: Die „harten“ Verkäufe sind für Media-Leute dann besonders relevant, wenn keine Reichweitendaten wie AWA vorliegen – etwa bei SI- oder B2B-Titeln. Wenn aber AWA-Daten vorliegen (und die AWA gilt durchaus als valide), dann treten die IVW-Zahlen in ihrer Bedeutung dahinter deutlich zurück. Und das zu recht, denn wie MrB oben ganz richtig schreibt: Für den Werbungtreibenden zählt die Reichweite, nicht der Verkauf. Und für die abweichenden Entwicklungen zwischen IVW und AWA hat er auch schon eine von vielen Möglichkeiten beispielhaft genannt.
Etwas „Demut“ in Ermangelung von Fachwissen gepaart mit dem Versuch einer differenzierteren Betrachtung – das würde ich mir wünschen.
Thomas Knüwer 22. Juli 2010 um 9:37
@Doro P.: Ich sehe es genau andersherum. Die IVW-Zahlen sind weitestgehend gut und hart ermittelt. Wenn dann die Awa – die in der Ermittlung also weichere Methode – sich in eine andere Richtung entwickelt, sollten die Alarmglocken schrillen.
Natürlich wollen Werbekunden Reichweite: Nur die soll doch bitteschön nicht erlogen sein. Deshalb sind die Bordexemplare inzwischen ja auch gesondert ausgewiesen.
Was weitere harte Fakten betrifft – dieDynamik dieser Grafik spricht Bände: https://www.indiskretionehrensache.de/2010/07/online-werbung-uberholt-zeitungen/
Weiterhin suche ich nach Gründen, warum Tageszeitungen überleben sollten. Vielleicht werfen Sie mal einen Blick auf diesen Artikel:
https://www.indiskretionehrensache.de/2010/05/zukunft-der-zeitung/
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