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Twitter hat die Wahl verraten. Sozusagen. Gestern, bei den Landtagswahlen trat ein, was vorhersehbar war: Mehrere Nutzer veröffentlichten am Nachmittag, circa ab 16.30 Uhr, Prognosezahlen.

Was danach passierte, ist auf vielen Ebenen Vorlage für Medien-Lehrbücher. Erstaunlich viele Menschen, mit denen ich gerne über den gestrigen Tag telefonieren würde, sind heute nicht erreichbar. Zum Beispiel jener CDU-Mann aus Thüringen, der als erster Prognosen über den Ausgang der Landtagswahlen twitterte.

Mutmaßlich handelte es sich dabei um Zahlen der Exit Polls. Das sind Umfragen, die vor den Wahllokalen gemacht werden. Sie liefern das Futter für die ersten Prognosen der TV-Sender um 18 Uhr. Damit Volksvertreter und Medien sich darauf einrichten können, tröpfeln diese Zahlen an einige Auserwählte – die diese Informationen dann weitergeben.

Es gibt da nur einen Haken: Das Veröffentlichen von Umfragen, die vor den Wahllokalen gemacht werden, sind explizit in den Landeswahlgesetzen untersagt – und werden mit Bußgeldern bis zu 50.000 Euro geahndet.

Wenn ich richtig geschaut habe, gab es einen zweiten Twitter-Nutzer, der sogar für alle drei gestrigen Landtagswahlen Ergebnisse veröffentlichte. Er trägt scheinbar einen Klarnamen – ist jedoch sonst nirgends im Web zu finden.

Bei der Forschungsgruppe Wahlen ist man auf das Thema schlecht zu sprechen. Ein Sprecher mit Wut in der Stimme erklärte mir, aus seinem Haus kämen die Zahlen nicht. Die Forschungsgruppe gäbe erst relativ spät vor der Schließung der Wahllokale Tendenzen aus wenige, ausgewählte Politiker und Chefredakteure.

In der Tat fällt auf: Die Prognosen via Twitter liegen wesentlich näher an den Zahlen von Infratest-Dimap. Dort ist die Presseabteilung heute nicht zu sprechen – ebenso niemand anderes.

Im Laufe des Tages habe ich mit einigen Twitter-Nutzern gesprochen, die jene Meldungen retweetet haben. Keiner von ihnen ahnte, dass er sich möglicherweise mit dem Gesetz über Kreuz stellt.

Die meisten übrigens sind gar nicht über Twitter auf die frühe Prognose aufmerksam geworden – sondern über Phoenix. Der TV-Sender hatte über die Tweets berichtet – und die Zuschauer haben sich das einfach mal angeschaut.

So entsteht ein medialer Resonanzboden, der bei der Bundestagswahl heftig schwingen wird. Nun wird die Twitter-Gemeinde nur darauf warten, dass jemand eine Prognose rauslässt. Und diese wird sich rasend schnell verbreiten.

Wieder einmal steht Deutschland ratlos vor dem Internet. So wie der „Politikwissenschaftler“ Christoph Bieber, den die Kollegen von Handelsblatt.com so zitieren:

„“Verhindern kann man das nicht“, sagt der Gießener Politikwissenschaftler Christoph Bieber, der sich mit den Neuen Medien beschäftigt, zu den Vorabveröffentlichungen vom Sonntag. Als Motiv sieht er eher die Hoffnung auf „15 Minuten Ruhm“ als das Ziel einer Beeinflussung der Wahl. Dafür seien die Zahlen am Sonntagnachmittag auch zu spät ins Internet gestellt worden. Man benötige mindestens eine halbe Stunde oder mehr, um eine relevante Zahl von Internet-Nutzern zu erreichen.“

Nicht nur, dass eine halbe Stunde ja um 16.30 Uhr nicht auch machbar wäre. Doch die Behauptung, es gehe um „15 Minuten Ruhm“ zeugt wieder einmal von der Fehlwahrnehmung dessen, was da im Netz passiert. Es ist Kommunikation. Menschliche Kommunikation. Und wer, käme er um 16.30 Uhr in eine Kneipe, um mit Freunden etwas zu trinken, würde nicht sagen: „Haste schon gehört? Die CDU kriegt bei den Wahlen richtig eins auf den Sack.“

Diesen grundmenschlichen Zug der Kommunikation zu unterschätzen ist typisch deutsch. Am 27.9. wird er sich noch stärker Bahn brechen. Dann auch wird Bundeswahlleiter Roderich Egeler auch nicht verhindern können, dass Prognosen nach außen dringen. Will er all jene verfolgen, die das Ergebnis veröffentlichen, steht er vor der mutigen Aufgabe, Dutzenden, wenn nicht Hunderten von deutschen Bürgern ein Bußgeld aufzudrücken.

Es gibt Jobs, die machen beliebter. Und letztlich gilt das, was der Sprecher der Forschungsgruppe Wahlen mir am Telefon sagte: „Haben wir in diesem Land wirklich keine wichtigeren Themen?“ In den USA werden Ergebnisse der Ostküste schon veröffentlicht, während an der Westküste noch gewählt wird. Glaubt denn wirklich irgendwer, eine Wahl ließe sich durch so etwas beeinflussen?

Wer das glaubt, der muss nun eines fordern: Exit Polls dürfen erst um 18 Uhr veröffentlicht werden. Und das bedeutet: Um 18 Uhr wird es keine schönen, bunten Grafiken geben und keine ersten Prognosen – sondern erst einige Zeit später. Aber seien wir ehrlich: Wäre das so schlimm?


Kommentare


lupe 31. August 2009 um 17:33

Wahlen gehen mir weitweit am Arm vorbei. Dies jedoch ist bemerkenswert:
\“… steht er vor der mutigen Aufgabe …\“
Gäbe es eine mutige Aufgabe, könnte er dann auch vor einer feigen Aufgabe stehen?
Und wieso STÜNDE er vor einer Aufgabe wie vor einem Schaufenster, einem Hochhaus, oder einem Spiegel? Könnte er auch vor einer Aufgabe LIEGEN?

Könnte er auch mutig eine Aufgabe lösen?

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Foxxi 31. August 2009 um 18:09

Hat da jemand eigentlich wirklich was gewußt, oder nur gut geraten? Ich meine so furchtbar überraschend war ja der Wahlausgang nirgends, oder?

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Thomas Knüwer 31. August 2009 um 18:11

@Foxxi: Es wurden allerdings Prozentzahlen genannt, die sich maximal 1,5% von den ersten Prognosen unterschieden – das ist dann schon bemerkenswert.

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Foxxi 31. August 2009 um 18:13

…es haben ja auch schon Menschen im Lotto gewonnen 😉

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Max Steinbeis 31. August 2009 um 20:28

Mann, Thomas, nur weil Du mit Herrn Bieber nicht übereinstimmst, ihm seinen Beruf in Gänsefüßchen setzen? War das nötig?

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Florian Steglich 31. August 2009 um 22:22

Hm, merkwürdige Attacke gegen Christoph Bieber, der das mit der Kommunikation eigentlich ziemlich genau verstanden hat. Er ist Dir aber schon mal vor heute untergekommen, hoffe ich, oder?
.
Das Herausplatzen in der Kneipe, wenn man das mehr oder weniger spektakuläre Ergebnis verkündet, ist meines Erachtens exakt dasselbe wie die \“15 Minuten Ruhm\“, die man nach Biebers Ansicht damit bei Twitter erreichen möchte. Auch die gemeinsame Lust an der Sensation ist Kommunikation. Mal abgesehen von der halben Stunde, die aber auch ziemlich egal ist, weiß ich nicht, was an der Aussage so falsch sein soll. \“Verhindern kann man das nicht\“, das ist nicht \“ratlos\“, sondern genau erkannt, was alle, die sich über dieses angebliche Problem so echauffieren, noch nicht einsehen möchten.

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fiftyruhr 31. August 2009 um 22:57

Deutschland versteht das Internet nicht … immer und immer und immer wieder diese lauwarme Klageleier von Missionar Knüwer. Man mag\’s kaum noch lesen, zumal anscheinend jedweder Anlass recht ist. Hier geht es doch nicht um Kommunikation und Kneipe und Twitternet-Freiheit, sondern lediglich um verbotene Vorveröffentlichung. Nicht mehr, nicht weniger.

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khfugger 1. September 2009 um 8:58

Ich bewerte die Vorab-Veröffentlichung der Wahlprognosen genauso wie Christoph Bieber. Die \“15 Minuten Ruhm\“ sind durch persönliche Eitelkeit der jeweiligen Twitterer getrieben, mehr nicht … Ihre auch nur theoretisch mögliche wahlbeeinflussende Wirkung ist ein Gesetzesverstoß.

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Dirk Landau 1. September 2009 um 9:08

Aber, aber! Deutschland, oder besser: die einflussreicheren Kreise der Bundesrepublik, versteht das Internet, oder besser: die Wege moderner Kommunikationsmöglichkeiten, in weiten Teilen doch tatsächlich nicht oder kaum.
Interessant ist, fiftyruhr, aber auch Ihre Formulierung \“verbotene Veröffentlichung\“.
Das ist, genau wie das lawblog kürzlich beim Begriff Menschenwürde schön verdeutlichte, auf die wunderbare Deutungsvielfalt der deutschen Sprache zurückzuführen.
Die Wahlen sind, im Sinne einer Grundvoraussetzung für repräsentative Demokratie, \“geheim\“ um den Wähler davor zu schützen, wegen einer Stimmabgabe, die ohne sein Zutun ihm zuzuordnen ist, Nachteile zu erleiden.
Alles weitere \“Geheime\“ daran ist schlicht nicht notwendig und wunderbar einfallsreich oder eben auch einfältig:
Wäre es evtl. gut für die Wahlbeteiligung, wenn in regelmässigen Abständen – sagen wir nach jeweils 1000 Wählern je Lokal – Zwischenergebnisse veröffentlicht würden? So wäre allen, die nicht wählen gehen würden, weil sie ein erwartetes Ergebnis für sicher halten, Gelegenheit gegeben, die Stimmabgabe doch noch zu vollziehen, wenn sich in den Zwischenergebnissen ein nicht befürworteter Trend abzeichnet….
Wäre ja auch eine Möglichkeit

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Paul 1. September 2009 um 10:03

Ich sehe das ähnlich wie meine Vorredner. Vieles, was in Blogs, auf Twitter etc. geschieht, ist genau dieses Buhlen um 15 Minuten Ruhm, das hat Herr Bieber m.E. richtig erkannt. Und natürlich ist es auch die digitale Verlängerung der guten alten Kantinengespräche. Beides finde ich übrigens gar nicht abwertend.

Wobei ich ja glaube, dass speziell dieser CDU-Mensch gar nicht wusste, was er tut, weil er Twitter mit SMS verwechselt hat und dachte, das lesen eh nur sein Spezln.

Dennoch, Unwissenheit schützt vor Strafe nicht: Das für diese ehrenlose Indiskretion mögliche Strafmaß sollte man m.E. gerne in voller Höhe ausschöpfen. Dann hat dieser Spuk vermutlich schnell ein Ende.

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Edgar 1. September 2009 um 13:19

Ich gehe mal davon aus, dass die Grafiken vom Compter erstellt werden. 6 Zahlen kann man locker in einer Minute eingeben. Wenn das Fernsehen um 17:59 die Zahlen hat, reicht es vollkommen, um die Exit Polls auch grafisch um 18:00 zu präsentieren.

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Andreas Wollin 1. September 2009 um 15:19

1) Wer das Glück hat, in einer Demokratie zu leben und trotzdem nicht wählen geht, ist selbst schuld. Und jemand, der das wegen twitter nicht tut, weil er Zahlen kennt, die nicht mehr wert sind als Prognosen, ist auch selbst schuld.

2) Diese Prognosen sind manchmal nicht das Papier oder die Bildschirmoberfläche wert, auf dem sie stehen. Man erinnere sich an 2005, als schwarz-gelb quasi sicher schien und schwarz-rot dann raus kam.

3) …gibt es hier einen guten Beitrag, dessen Überschrift meine Position dazu gut zusammenfasst: Twitter-Prognosen: so what? http://carta.info/13994/twitter-prognosen/ Ehrlich: Was soll\’s. Zitat in dem von mir verlinkten Beitrag: \“Fakt ist: Solange es keine offizielle Prognose gibt, kann niemand wissen, ob via Twitter verbreitete Zahlen glaubwürdig sind.\“ – oder via SMS, oder sonstwas. Oder auch das hier richtig erkannt: \“Wer aufgrund irgendwelcher Zahlen irgendwo im Internet seine Wahlentscheidung spontan ändert, ist im besten Fall naiv\“ – wähle ich nun doch CDU statt SPD, weil ich zu den Gewinnern gehören will und twitter mir das sagt?
Ein mündiger Bürger sollte sich vorher die Programme durchlesen und feststellen, wo die größten Schnittmengen mit den eigenen Vorstellungen vorhanden sind. Und wenn im Vorhinein ein paar Zahlen raus kommen, sollte das nichts an der Wahlentscheidung ändern. Deshalb gebe ich Herrn Knüwer Recht wenn er sagt, dass man die Menschen kommunizieren lassen soll, dass es Wichtigeres gibt (bzw. ein Zitierter das sagt), dass das in USA Gang und Gäbe ist. Ich finde die Aufregung völlig unberechtigt.

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Detlef Borchers 1. September 2009 um 17:15

Fakt ist, dass der Gießener Politologe Bieber den einzig richtigen Satz gesagt hat: Man kann es nicht verhindern. Alles andere ist Interpretation. Die Diskussion erinnert an eine frühere Diskussion, als man Computer-Hochrechnungen bei Wahlen verbieten wollte. –Detlef

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fiftyruhr 1. September 2009 um 20:45

@ Dirk Landau
Nur die kleine, aber wohl wichtige Korrektur Ihres Beitrags, da sonst ein falscher Zungenschlag entstehen könnte: Ich schrieb von verbotener VORveröffentlichung …

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Thomas 1. September 2009 um 23:51

Als ich als Volontär noch mit seriösen Dingen zu tun hatte, erfuhr ich das Ergebnis ebenfalls vorab, auch bei einer LTW, von einem Kollegen. Insofern war es auch vor Twitter niemals so, dass etwa nur Chefredakteure oder Toppolitiker mit diesen Infos versorgt wurden. Ich stimme übrigens zu, dass man die Exit Polls abändert oder abschafft. Würde mich nicht weitwr stören, wenn es erst später erste Hochrechnungen gibt.

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Bernd 2. September 2009 um 1:45

Den letzten beiden Absätzen stimme ich sowas von zu.

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Oliver 3. September 2009 um 9:23

Hallo,
Bei der Bundestagswahl wird es über twitter noch interessanter. Das war ja nur ein Auftakt in den drei Regionen. Ich bin mir sicher, dass sich am 27. viel mehr twitter-user an eine Prognose trauen und ich bin mir noch sicherer, dass noch mehr TV-Anstalten oder Medien diese dann für bar nehmen und publizieren werden.

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jo 5. September 2009 um 14:58

\“In den USA werden Ergebnisse der Ostküste schon veröffentlicht, während an der Westküste noch gewählt wird. Glaubt denn wirklich irgendwer, eine Wahl ließe sich durch so etwas beeinflussen?\“

Auch das ist wohl allein schon wg. des us-amerikanischen Wahlsystems dünnes Eis (weit dünner als hier bei uns). Nevada beispielsweise ist ein swing state, der durch eine Beeinflussung von aussen durchaus kippen könnte.

Nehmen wir die US-Wahl 2004. Die war ja durchaus knapp. Es gibt durchaus Analysen, die darauf hindeuten, dass Kerry durch die Veröffentlichtung von exit polls und Ergebnis (Zeitverschiebung) im Osten deutlich stimmen verloren hat:
http://www.opednews.com/sabatini_111804_vote_fraud.htm
http://en.wikipedia.org/wiki/2004_United_States_presidential_election_controversy_and_irregularities#Exit_polling

Und wie war das noch in Kalifornien, da gab es doch mal recht konkrete Auswirkung, weil die Wahl vermeintlich entschieden war? War\’s ein parallele Abstimmung über ein Gesetz? Irgendwas in der Richtung jedenfalls.

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