Unsere Gesellschaft wird konservativer, die Folge ist eine zunehmende Polarisierung. Und auf diese Polarisierung reagieren Parteien mit Programmen, die immer konservativer ausfallen und die Grenzen dessen, was die Parteien bisher vertraten, Stück für Stück dehnen.
So geht die Erzählung des Wahlkampfes 2025, manifestiert in der fast manischen Fixierung auf das Thema Migration. Man könnte sagen: Politik und Medien sehen die Wahlentscheidung als Käufermarkt, in dem die Parteien als Verkäufer nur dem hinterherhecheln, was die Wähler gern hätten.
Klingt logisch.
Aber.
Wieso sagt der Meinungsforscher Manfred Güllner dann: „Diese Bundestags-Wahl ist eine Art Ratlos-Wahl.“? Klar, dessen Forsa-Institut ist hinterfragenswert, „Ergebnisse wie bestellt“, schrieb mal Übermedien über Forsa. Güllner berichtete, dass sein Institut im Dezember 22 Prozent Befragter gezählt habe, die noch nicht gewusst hätten, wem sie ihre Stimme geben. Einen Monat später seien es 28 Prozent gewesen und das sei eine untypische Entwicklung. Infratest Dimap sprach jüngst von 20 Prozent.
Wenn die Parteien das anbieten, was ihre Kunden aka Die Wählenden wollen, warum herrscht keine Begeisterung, nicht mal ein Okaysdamitsein, über die Parteiprogramme? Diese Ratlosigkeit bemerke ich anekdotisch überall in meinem verschiedenen Bezugsgruppen: Die AFD will niemand unterstützen, der sich in meinem Umfeld tummelt, viele haben Angst davor, dass die Rechtsblinker die Wahl gewinnen. Aber wen soll man denn nun wählen?
Seit gestern habe ich eine These: Diese Wahl ist überhaupt kein Käufermarkt – sie ist ein Verkäufermarkt und die Verkäufer, also die Parteien, sind es, die für Polarisierung und Rechtsdrift sorgen.
Auslöser für diese Behauptung war der der Wahl-Kompass, unter der Führung von Norbert Kersting, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft, Kommunal- und Regionalpolitik in der Uni Münster. Der Kompass arbeitet ein wenig anders als der Wahl-o-Mat. Zum einen, weil es nicht Null-Oder-Eins-Ja-Oder-Nein-Entscheidungen gibt, sondern eine fünfstufige Zustimmungsintensität zu den vorgestellten Fragen. Zum anderen ordnen die Parteien sich und ihre Haltung zu den Fragen nicht selbst ein, sondern dies tut Kerstings Institut unter Beihilfe von Experten aus dem Arbeitskreis Parteienforschung.
So sieht das Ergebnis auch ein wenig anders aus. Es gibt neben dem üblichen Prozent-Ranking eine Einordnung in ein Quadrantenschema. Die eine Dimension lautet „Wirtschaftlich Rechts/Links“, die die andere „Progressiv/Konservativ“. In das so entstehende Koordinatensystem ordnet der Kompass Wähler und Parteien ein.
Bei mir sieht das so aus:
Als ich das sah, tobten tausende Fragen durch meinen Kopf, die größte davon lautete:
HÄ?
Meine Einordnung unterschreibe ich sofort: eher progressiv, einen Hauch weit links – das passt schon. Insgesamt eine Position der Mitte.
Doch die einzige Partei, die mir überhaupt nahe steht ist – die ÖDP. Wäre diese Grafik ein Ozean und ich ein Schiff, wäre ich von den angeblichen Volksparteien weiter entfernt als die Rettungsschiffe von der Titanic.
Es folgte eine Erkenntnis: Meine Position, die habe ich durch die Antworten auf die Frage selbst bestimmt. Aber die Position der Parteien, die ist ja für jeden gleich. Und das bedeutet: Für Menschen in der Mitte macht keine einzige Partei ein Angebot.
Vielleicht also gibt es ein Defizit in der Definition dieser Mitte? Ich fragte meinen Schreibtischnachbarn. Er landete weiter rechts – aber auch er nur ansatzweise in der Nähe einer Partei. Meine geschätzte Ehefrau – gleiches Thema. Eine Mitarbeiterin: Genauso. Ein mir unbekannter Mastodon-Nutzer schrieb dies:
Also habe ich Professor Kersting mal gefragt. Seine Antwort: „Die Parteien entwickeln sich in diesem Wahlkampf deutlich polarisierter. Früher waren sie stärker in der Mitte unterwegs.“
Natürlich sind die Hand voll Menschen, die ich um ihre Ergebnisse gebeten habe, nicht repräsentativ – aber doch interessant. Sie alle sehen sich als Menschen der Mitte. Doch keine Partei macht ihnen ein Angebot. Kein Wunder, dass so viele ratlos sind. Es ist so, als wollte man eine Übergangsjoppe kaufen und es gäbe nur Polar- oder Tropenkleidung im Laden.
Warum ist das so? Professor Kersting meint: „Das hat sehr stark mit den neuen Parteien, vor allem der AFD zu tun.“ Weshalb er auch glaubt: „Die Koalitionsverhandlungen dürften sehr komplex werden.“
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