Freitag Abend, letzter re:publica Tag, irgendwas so um die 23 Uhr.
Eigentlich würde man jetzt aus den Lautsprechern gern „Alle vier Minuten“ von Element of Crime hören, den sommerberlinigsten Song in der Geschichte der sommerberlinigen Musik, doch den kennt ja kaum jemand und die Band selbst findet das zugehörige Album „Romantik“ laut ihres eigenen Podcast „Narzissen und Kakteen“ eher so meh, weshalb Sven Regner in diesem Moment nicht singt:
Lass uns nochmal um die Häuser zieh’n
Schonungslos und ohne Hintersinn
Willenlos und immer mittendrin
An den letzten warmen Tagen in Berlin
Aber vielleicht ist das ja auch gut so, dass der Song da nicht läuft, ist das Oberthema der Konferenz doch der Schlusssatz aus „Bohemian Rapsody“, also „Any way the wind blows“, und es sind ja auch gar nicht die letzten warmen Tage, sondern einer der, je nach Wetteroptimismus, ersten warmen Abende und im gleichen Song heißt es ja auch:
Und ohne Klarheit in der Sprache*
Ist der Mensch nur ein Gartenzwerg
Es ist also warm und es ist der letzte rp22-Abend. Wir sitzen in kleiner Gruppe beim wirhabennichtmitgezählten Bier an jenem Spree-Strand-Stück, der die Atmosphäre in den Tagen zuvor so besonders machte.
„Ich setz mir hier jetzt mal dazu.“
Eine Frau, Ende 20 vielleicht, tut wie angekündigt und wird unwissentlich den symbolischen Moment dieser ersten Pandemie-Auslauf-re:publica liefern.
Wir stellen uns vor – sie stellt sich vor. Sie kommt aus Bad Pyrmont, ist Ärztin und hat mit all dem, was die re:publica ist, wenig zu tun. Ihr Bruder aber, der komme immer. Und er habe geschwärmt. Als nun klar war, dass die re:publica nach zwei Jahren Digitalität wieder physisch stattfinde, habe sie sich das mal anschauen wollen. Dies sei ihr Urlaub und werde ab jetzt immer ein Urlaub sein. inspiriert und begeistert sei sie, von den Themen, den Menschen, der Umgebung. #rp23 ist in ihrem Kopf schon gebucht.
Nicht nur dem rp-Team war eine Unsicherheit anzumerken ob der ersten richtigen Konferenz nach dieser Pause. Doch wer Tanja, Johnny, Andreas und Markus am Ende der drei, besser: vier, Tage begegnete, erlebte eine Ausstrahlung von Glück wie schon sehr lange nicht mehr.
Denn die rp22 wirkte wie ein Rücksturz in die Anfangstage – nur eben in einer größeren Version. Seit den seligen Kalkscheunen-Tagen habe ich nicht mehr so viele Menschen neu kennengelernt und Ähnliches berichteten viele TeilnehmerInnen. Es gab eine euphorische Lust auf Kontakte, wie eben auch bei jener Bad Pymronterin. Zum ersten Mal muss ich nach einer re:publica die überreichten Visitenkarten auswerten. Verrückt.
Nachtrag vom 14.6.22: Es gibt sogar Blogger, die ihre erste re:publica erlebten, zum Beispiel der Texte ins Netz schreibende Lehrer Herr Rau und der artdirektorende Herr Formschub.
Natürlich half die neue Location Arena Berlin. Ihr Außenbereich war fast satirisch überzeichnet re:publica-typisch. Strand. Liegestühle. Strandkörbe. Sonnendecks. Ein Schiff. Ein Schwimmbad. Ein verdammtes SCHWIMMBAD.
Seien wir ehrlich: Hätte es geregnet, wäre die rp22 ein Desaster gewesen. So aber war sie ein fiebriger Geek-Traum an den ersten warmen Abenden in Berlin.
Auch für unser Team von Völlerei & Leberschmerz. Wir durften auf der traumschönen Open Air-Bühne mit Experten über Blähungen, Fürze, Hülsenfrüchte und individuelle Ernährung sprechen. Es war herrlich voll, die ZuschauerInnen machten jeden Mist mit – danke für’s Kommen und Zuhören. Wer es verpasst hat: Demnächst gibt es die Aufzeichnung in unserem Podcast-Feed.
Die zwei Jahre reine Digitalität haben das Team auch nicht seines Willens beraubt, die Wünsche der BesucherInnen zu antizipieren. Die re:publica bleibt die ästhetischste Konferenz, die ich kenne, gespickt mit kleinen Details, die den Aufenthalt leichter und/oder schöner machen.
Und: nachhaltiger. Fast schon manisch – aber natürlich absolut richtig – versucht die rp zu zeigen, wie physische Konferenzen ressourcenschonender werden können: Lanyards sollten mitgebracht werden, genauso Köpfhörer für jene Bühnen, bei denen dies nötig war, auch eine CO2-Bilanz soll es noch geben. Dazu gehört auch rein vegetarisches, beziehungsweise veganes Essen. Das soll es auch in lecker geben, habe ich gehört. Vielleicht versucht man es 2023 mal in dieser Variante.
Übrigens: Während viele Konferenzen ihre Podien überwiegend mit Männern füllen, kommt die re:publica auf eine Speakerinnen-Quote von 54,9% – bermerkenswert.
Allen hätte es genügt, wäre die Konferenz, für die der Begriff „Festival“ dann doch immer besser passt, einfach zurückgekehrt. Doch gleichzeitig hat sie sich weiterentwickelt, ist breiter geworden.
Gerade auf der großen Stage 1 hatte das Team den Mut zur batikshirtigen Vielfarbigkeit: ernste Talks der großen Namen wurden gefolgt von den aufsteigenden Zauber-Stars Siegfried & Joy, dem Interview mit einem Krankenpfleger, einer Lesung oder einem DJ-Set.
Immer weiter entfernt sich die re:publica vom Digitalfokus, wird von der Konferenz für die digitale Gesellschaft zum Debattenort der Gesellschaft insgesamt.
Das scheint das Team auch erkannt zu haben. Mit zu wenig Vorlauf für etliche, die gern gekommen wären, wurde eine neue Subkonferenz am Tag nach der rp22 angekündigt: Die txt soll sich um das geschriebene Wort kümmern.
Noch ist sie ein kleines Pflänzchen, was sie dafür besonders entspannt machte. Doch das Potential ist da, etliche Altsack-BloggerInnen, zu denen ich mich auch zähle, würden bei einer Wiederholung gern die txt entern.
Schon diesmal gab es wirklich gute Themen, am Speaker-Briefing sollte die txt aber schrauben und das mit dem geschriebenen Wort ernster nehmen – diesmal gab es zu viele Sessions zu Audio- und Video-Formaten. Zu vieles blieb auch oberflächlich, ich wünsche mir mehr Werkstatt-Einblicke in das Schreiben.
Eines aber fehlte an diesen nun vier Tagen in Berlin: Jenes ätzende, teils wütende Abarbeiten der klassischen Medienmarken an der re:publica. So vorhersehbar und holzschnittartig war die Kritik von Blättern wie der „FAZ“ oder „Süddeutscher“, dass ich hier Handreichungen für JournalistInnen bloggte, die jene Berichterstattung vorgwegnahm.
Davon bleibt nicht mehr viel. Sicherlich auch, weil gleich 5 Mitglieder des aktuellen Bundeskabinetts auf der Bühne aufliefen – darunter der Kanzler. Weil Luisa Neubauer spricht, genauso Klimaforscherin Friederike Otto, die Leitautorin des IPCC-Berichts. Angesichts einer solcher SpeakerInnen-Liste fällt es schwer, von „asexullen Nerds“, „zotteligen Bloggern“ oder einer ominösen „Netzgemeinde“ zu giften, die lieber „unter sich bleibt“.
Denn Untersichbleiben – darauf schien kaum jemand Lust zu haben. Endlich wieder Menschen, endlich wieder Inspiration – endlich wieder re:publica. Die Pandemie wurde nicht für beendet erklärt (zum Beispiel wurde das traditionelle Finalsingen der „Bohemian Raphsody“ mit einer Maskenquote von 100% absolviert).
Aber für die 21.000 Besucher war die rp22 ein viertägiges Aufatmen an den ersten warmen Tagen in Berlin.
Kommentare
Carmen Hillebrand 13. Juni 2022 um 16:38
Es war fürwahr ein Fest. Und die Geschichte der Ärztin, die sich zu euch setzte, zeigt was die re:publica ist: offen für alle. Ich habe in meinen jetzt 11 re:publicas es nicht einmal erlebt, dass jemand komisch war, wenn ich sie oder ihn von der Seite ansprach.
Franziska Bluhm 13. Juni 2022 um 20:57
Ein schöner Text, der sehr gut einfängt, was auch ich erlebt habe!
Vom Waschmaschinenzeitalter und Narrativen – Rückblick auf die re:publica22 » comspace.blog % 4. Juli 2022 um 15:42
[…] https://www.indiskretionehrensache.de/2022/06/republica-2022-any-way-the-sun-shines […]