Der schlimmste Tag des März ist der Abend nach der Rückkehr von der SXSW, der wichtigsten (und je nach Rechnung größten) Digitalkonferenz der Welt. Eine Woche lang Hirnstimulation in Austin, gemeinsam mit über 70.000 anderen, eine Woche lang Fanboy-Momente, weil Hollywood- und Musikstars greifbar nahe sind, eine Woche lang besseres Wetter als in Germany (na gut, meistens), eine Woche lang spannende Menschen treffen, eine Woche lang unsere Awesome German Wohngemeinschaft, die für uns eine Art temporäre Familie geworden ist.
Und dann – Deutschland.
Die deprimierende Analogität des Landes trifft einen ab Verlassen des Lufttransportmittels wie ein eisiger Blizzard die ungeschützten Wangen eines frierenden Kleinkindes. Langsamere Wlane, bezahlen nur mit Bargeld, im Starbucks am Frankfurter Flughafen prahlt jemand damit, seine Social Web-Accounts gelöscht zu haben.
Im Zug blättere ich das „Handelsblatt“ durch und lese in einer Mischung aus Verzweiflung und Belustigung einen bizarren Kommentar meines eigentlich geschätzten Ex-Kollegen Jens Coenen, der in einer mit Logik nicht erklärbaren Volte die 737-Krise als Indikator dafür nimmt, dass autonomes Fahren nur eine Nischenerscheinung werde. Schon der technische Unterschied zwischen Boeing und Airbus wird wegignoriert. Denn während, wie der folgenswerte Captain Joe im vergangenen Jahr erläuterte: Bei Airbus wird dem Piloten möglichst viel durch Technik aus der Hand genommen – Boeing setzt dagegen auf den Piloten als Zentrum.
Das heißt ja nicht, dass die SXSW unkritisch wäre – im Gegenteil. Schon immer waren hier alle Meinungen vertreten, auch wenn das in deutschen Medien gern anders dargestellt wird. 2011, zum Beispiel, bei meinem ersten von 8 SXSW-Besuchen wurde über die Gefahren des digitalen Handels für die Börse genauso diskutiert, wie über Internet-Sucht. Doch während bei deutschen Konferenzen Fragerunden im Anschluss an eine Diskussion oder einen Vortrag gern zu Gegenstatements genutzt werden wird, in Austin sachlich gefragt, statt Meinung geschildert – wie wohltuend.
2011 schrieb ich in meinem Fazit auch, dass die SXSW die Cebit des 21. Jahrhunderts sei. In dem Jahr, in dem die Cebit zu Staub zerfallen ist, hat die SXSW so viel Einfluss wie nie zuvor. Die US-Politik schlägt massiv auf, von der gefeierten Alexandria Ocasio-Cortez bis zu einem halben Dutzend demokratischer PräsidentschaftskandidatInnen. Hier präsentieren die Ex-Ebay Chefin Meg Whitman und Medienmanager Jeffrey Katzenberg mehr zu ihrem Videoportal Quibi und die Instagram-Gründer äußern sich erstmals öffentlich zu ihrem Abschied von Facebook.
Auch werden hier Stars gemacht. Der Aufstieg von Trendforscherin Amy Webb ist unmittelbar mit der SXSW verknüpft. Der nächste Star dürfte der höchst sympathische Rohit Bhargava werden. Mit 15 Minuten Lesung aus seinem jährlich erscheinenden Buch „Nonobvious Trends“ begann er vor Jahren – dieses Jahr füllte er den mit 2500 Plätzen größten Raum und bekam wegen Überfüllung eine Zugabe-Session vor weiteren mehreren Hundert Zuhörern.
Und schließlich ist die Konferenz zu einem internationalen Treffpunkt geworden – aber eben nicht nur der Digital-Irren. Immer mehr hochrangige Vertreter von Klassik-Konzernen reisen an und mischen sich mit Startup-Vertretern, Beratern, Künstlern und Programmierern. Sogar die deutsche Politik ließ sich erstmals blicken in Gestalt von Flugtaxi-Staatssekretärin Dorothee Bär (CSU) und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil.
Diese Melange hat aus Austin eine begehrenswerte Stadt gemacht. 2011 klagte ich noch, dass ATX (so die heimische Abkürzung) nicht sonderlich schön sei. Nun hat sich die Lebensqualität erheblich gesteigert, auch weil sich Austin dank der SXSW einen Namen als Konferenzstandort gemacht hat. Die Konferenzen brachte Geld in die Stadt, die Kommune investierte, das zog neue Anwohner an – und neue Tech-Firmen.
Die globale IT von General Motors sitzt seit ein paar Jahren in Austin; Apple kündigte den Bau eines 1 Mrd.$ teuren Campus für 15.000 Mitarbeiter an (derzeit arbeiten schon 6.000 Appleaner hier); Oracle eröffnete vergangenes Jahr einen neuen Campus für 5.000 Mitarbeiter – mit der Kapazität für weitere 5.000; Google schließlich wird die gesamten 35 Stockwerke eines Neubaus übernehmen – auch hier werden 5.000 Leute arbeiten. Schon jetzt aber fehlt es laut „New York Times“ an 48.000 Wohnungen im bezahlbaren Preisrahmen – wobei bezahlbar bedeutet, dass die Monatsmiete unter 2.000$ liegt.
All dies verändert die Stadt schon heute. „Keep Austin weird“ ist das inoffizielle Motto – doch wird ATX immer weniger verrückt außerhalb der SXSW-Tage. Als liberale Oase im konservativen Texas ist Austin schon jetzt ein Anlaufpunkt für Obdachlose, deren Drogenproblem sind in den Gesichtern deutlich abzulesen. Der Verkehr? Schon heute beginnt der Tag mit Stau. Jeder Tag.
Wer die Partystraße 6th Street nur zwei Kilometer nach Osten fährt, sieht die Vorboten der Veränderung. Wackelige Hütten stehen auf staubigen Grundstücken. Wer hier Boden kauft, muss ihn auch bebauen, deshalb die Hütten. Doch tatsächlich spekulieren die meisten auf ein Wachstum der Stadt in die Gegend und somit einen späteren Verkauf des Grundstücks.
Sonya Coté tut das nicht, sie will bleiben. Einst war sie Grafikerin bei Whole Foods. Als der Händler aus Austin an die Börse ging, verkaufte sie ihre Mitarbeiteraktien und finanzierte sich den Jobwechsel zur Köchin und Restaurantbesitzerin. Später dann der Traum in Ost-Austin: eine Farm, auf der sie ihr zweites Restaurant startete, das „Eden East“.
Es ist ein magischer Ort. Restaurants mit eigenem Kräutergarten gibt es viele auf der Welt. Doch das hier ist eine kleine Farm, 70% der Ernte verkaufen Coté und ihr Mann an andere Restaurants. Wer hier isst, sitzt in der Scheune oder bei gutem Wetter draußen und genießt eine frische, texanisch geprägte Küche.
Für unseren Podcast Völlerei & Leberschmerz habe ich mit ihr gesprochen:
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Bei einem SXSW-Dinner serviert sie als Fingerfood eine Artischockencreme, serviert auf einem Artischocken-Strunk als Löffel. Letzteren kann man nicht essen, man wirft ihn nach Genuss der Creme einfach über den Zaun in das offene Hühnergehege.
Ein magischer Ort. Aber wie lang noch?
Nachtrag vom 19.1.22: Die Antwort lautete – nicht mehr lang. Coté hat ihr Restaurant (und die Farm) 2020 verkauft ist nach Bastrop gezogen. Das liegt 40 Minuten von Austin City entfernt, gehört aber zum touristisch beliebten Hill Country.
„Ich gehe davon aus, dass wir in ein paar Jahren umgeben sind von Hochhäusern. Das sieht auch der Bebauungsplan vor.“ Trotzdem will sie nicht weichen, sieht dann sogar das „Eden East“ als wichtigen Teil der Community: Schulkinder könnten sich dann zu Fuß ansehen, wie eine Farm funktioniert.
Eine Farm inmitten von Hochhäusern? Das wäre dann wieder so herrlich Austin-weird.
Und auch wenn die Wachstumsschmerzen der Stadt erheblich sind – der SXSW und ihrem Einfluss wird all dies helfen. Spricht man heute mit Konferenzbesuchern aus dem Silicon Valley sagen viele, dass sie wegen ihrer Reise nach Texas komisch angeguckt werden. Denn die SXSW sei ja nicht mehr cool, sondern nur noch groß.
Wenn aber immer mehr Tech-Arbeiter in die Stadt ziehen, werden sie auch zur Konferenz gehen, denn ihr Besucht würde mangels Reisekosten günstiger. Die Folge wäre tatsächlich DIE digitale Konferenz weltweit. Und es ist nicht auszuschließen, dass am Ende dieser Entwicklung, vielleicht in 10 oder mehr Jahren, nicht mehr das Silicon Valley das Herz der westlichen Digitalwelt ist – sondern Austin.
Kommentare
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