Skip to main content

Eigentlich schätze ich die Texte von Wolf Lotter in „Brand Eins“. Vor allem wegen seines Weitblicks. In einem Gastkommentar für die „Welt“ aber profiliert er sich als Reiter auf hohem Ross. Kurt Tucholsky gehört zu den großen deutschen Journalisten. Darauf kann man sich im Konsens einigen, denke ich. Weil er aber ein rechter Vielschreiber war, legte er sich Pseudonyme zu, damit die jeweiligen Abnehmer-Blätter nicht zu sehr den Eindruck einer Tucholsky-Hauszeitung erweckten. Und so schrieb er unter Pseudonymen wie Ignaz Wrobel, Theobald Tiger und Peter Panter, Kaspar Hauser, Paulus Bünzly, Theobald Körner oder Old Shatterhand.

Dieses Schreiben unter Tarnnamen lässt Tucholsky in die Rubrik der „feigen Gewalttäter nach Wolf Lotter“ fallen. Denn der ansonsten geschätzte Kollege hat in einem Gastbeitrag für die Welt zum großen Nur-Mit-Namen-Schreiber-Haben-Haltung-Schlag ausgeholt:
„Blog-Heckenschützen und anonyme Diskutanten vermögen so wenig zu verändern wie vermummte Chaoten oder heimliche Brandstifter und nächtliche Schlägertrupps. Sie sind, was sie sind: feige Gewalttäter. Ein Bürger hat einen Namen. Dieses Herkunftszertifikat garantiert echte Haltung.“

Natürlich wird er das alles nicht so gemeint haben wollen, doch wer mit grober Keule zuschlägt, trifft eben viele Ziele. Und Lotter offenbart eine Attitüde, die an Fräulein Rottenmeier aus „Heidi“ erinnert und Wolfgang Schäuble erfreuen dürfte.

Hier ein paar besonders hübsche Lottereien:

„Blogs und Foren sind mittlerweile der Tummelplatz anonymer Heckenschützen.

Ihre Sprache kennt keinen Respekt – ihr fehlt also die Grundlage jeder Meinungsfreiheit…“

Respekt als Grundlage der Meinungsfreiheit. Respekt vor wem? Der deutschen Sprache? Oder dem Gegenüber? Hat Lotter schon mal alte Bundestagsdebatten gehört, als Wehner, Brandt und Strauß noch am Pult standen?

„Nun behaupten jene, die die Anonymität im Netz verteidigen, ihre freie Rede wäre gefährdet, wenn sie sich mit ihrem Namen dazu bekennen würden…

Wer so argumentiert, spielt dem wachsenden Kontrollbedürfnis – etwa des Staates – erst recht in die Hände. Denn aufseiten jener, die Kontrolle ausüben wollen, werden stets die Beispiele angeführt, bei denen Anonymität dazu führt, dass letzte Hemmungen verloren gehen. Anonymität führt zum Generalverdacht und, schlimmer noch, zur Bedeutungslosigkeit.“

Von welchen Beispielen schreibt der Mann da? Wenn anonyme Schreiber, oder korrigieren wir den Kollegen: pseudonyme Schreiber, bedeutungslos sind, warum widmet er ihnen so viele Zeilen. Und warum stehen sie unter Generalverdacht? Welcher Verdacht überhaupt?

„Pseudonyme mögen in Diktaturen nötig sein. Wer sie in Demokratien verwendet, schadet der offenen Gesellschaft.“

Nun darf man sich ja zum einen fragen, ob es nicht ein schlechtes Zeichen für unsere Gesellschaft ist, dass Menschen glauben, Pseudonyme verwenden zu müssen. Aber das wäre für Lotter wohl zu viel. Genauso wie die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die schreiben möchten – deren Arbeitgeber aber dies vielleicht nicht so gern hat. Auch da wäre ein Diskurs in Sachen „Zustand der demokratischen Gesellschaft in Deutschland“ nötig.

Vielleicht könnte man auch überlegen, dass so mancher in Deutschland Angst hat, wenn beim Postamt um die Ecke Beamte sitzen, die Briefe öffnen. „Bekennerbriefe“, natürlich nur, wie die Polizei behauptet. Als ob ein Bekennerbrief Sondermarken draufhat – und außerdem an normale Bürger verschickt wird. Früher jedenfalls gingen Bekennerbriefe an Medien.

Vielleicht hat Lotter ganz am Ende gemerkt, dass er sich verrannt hat. Und so endet er mit:
„Wie wäre es stattdessen, die Kräfte darauf zu verwenden, all jenen, die die freie Rede sanktionieren, entgegenzutreten, mit Name, Adresse und dem dafür nötigen Mut? Dazu gäbe es reichlich Anlass, viele Möglichkeiten, gerade im Internet. Hasenfüße haben wir schon genug.“

Ja, Herr Lotter, genau. Wie wäre das denn mal?

Nachtrag: Was hätte wohl Rudolf Augstein alias Jens Daniel dazu gesagt?


Kommentare


Hauptstadtstudent 5. Juni 2007 um 17:23

Vielleicht gibt es auch Leute, die keine Lust haben sich öfter mal für ihre Meinung zu rechtfertigen, sondern sie einfach nur publizieren möchten um anderen vielleicht noch eine diversifizierte Betrachtung zu ermöglichen. Denn all diese Leute, bzw. der größte Teil von ihnen, haben von Berufs her nichts mit Medien am Hut, sie sind keine Journalisten oder Politiker. Sie werden nicht im Beruf eingestellt wegen ihrer Meinung, aber möglicherweise deswegen abgewiesen.
Sie sind keine Leute, die ihre Meinung kundtun möchten um andere zu überzeugen oder zumindest nicht ausschließlich. Die meisten möchten sich sich nur mitteilen und wer auf anonyme Schreiber keinen Wert legt, der muss die Texte ja auch nicht lesen.

Antworten

Clap 5. Juni 2007 um 17:24

Tucholsky über Pseudonyme:

\“Pseudonyme sind wie kleine Menschen; es ist gefährlich, Namen zu erfinden, sich für jemand anders auszugeben, Namen anzulegen ? ein Name lebt.\“

(Aus seinem Sammelband \“Mit 5 PS\“, 1928)

Antworten

Jörg Sutter 5. Juni 2007 um 21:16

\“Wolf Lotter\“ ist übrigens das Pseudonym von Mathias Bröckers.

Antworten

Heide 6. Juni 2007 um 9:16

\“Anonymität führt zum Generalverdacht\“. Hach wenn man solche Sätze liest, glaubt man förmlich spüren zu können wie der Autor die Hacken zusammenschlägt und stramm steht.

Antworten

Chat Atkins 6. Juni 2007 um 9:58

Vielleicht schreibt er einfach nicht so viel, dass er schon einen zweiten Namen nötig hätte? Insofern fehlt ihm einfach nur das Problembewusstsein …

Antworten

mark793 6. Juni 2007 um 10:52

Herr Lotter bleibt auf halbem Weg stehen. Konsequent weiter gedacht wäre auch das Nummernschild für Fahrradfahrer und Fußgänger zu fordern. Die Anonymität, mit der die genannten Gruppen im öffentlichen Raum unterwegs sind, legt den Generalverdacht nahe, dass sie Haltesignale von Lichtzeichenanlagen missachten. Außerdem führt Anonymität zu Bedeutungslosigkeit. Das sieht man ja beispielsweise auch daran, dass ein Dieter Bohlen, der keinen Hehl aus seinem Namen macht, auf der Straße erkannt wird – ich als anonymer Mitbürger aber nicht.

Allerdings verstehe ich durchaus, wie Herr Lotter auf dieses Brett kommt. Als Journalist bin ich es auch seit jeher gewohnt, mit meinem Namen geradezustehen für die Sachen, die ich verfasse. Einfach so ins Internet reinzuschreiben, ohne die durch das Trägermedium aufgeladene Bedeutung meines Realnamens, das fühlte sich anfangs ungewohnt und seltsam an. Da ich aber mein Blog überwiegend mit privaten und für den öffentlichen Diskurs eher belanglosen Dingen fülle, bleibt es einstweilen so wie es ist – ganz gleich, ob mich ein Herr Lotter unter Generalverdacht des Heckenschützentums stellt.

Natürlich könnte ich jetzt hergehen und schreiben, ich hielte den Herrn Lotter für einen aufgeblasenen und arroganten Fettsack. Aber weil das zum einen nicht den Tatsachen entspricht und zum anderen nur die irrige These des ansonsten sehr geschätzten Kollegen untermauern würde, verkneife ich mir das. Wenn das meine tatsächliche Meinung wäre, würde ich die zur Not auch mit meinem vollen Namen unterschreiben. Punkt.

Antworten

marcel weiss 6. Juni 2007 um 11:29

Warum hält sich eigentlich so hartnäckig die Mär vom anonymen Blogger?

Jeder, der in Deutschland sein Blog/seine Seite selbst hostet, ist automatisch nicht mehr anonym.

Schon mal von Impressumspflicht gehört, Herr Lotter? Oder der Denic?

Antworten

derherold 6. Juni 2007 um 14:39

Alles eine Generationen-Frage.

Mit *20* war man revolutionär – mit *50* ruft man nach der Staatsmacht: sooo ungewöhnlich ist die Forderung nach \“… Ruhe ist die erste Blogger-Pflicht…\“ nun ja nun auch nicht. 😉

Antworten

Cator 6. Juni 2007 um 18:45

Mögliche Anonymität ist eine gute Voraussetzung für breiten und ungefilterten Diskurs. Nehmen wir aktuell mal den lawblog von Herrn Vetter, da steht ein Artikel über einen \“Drogenexperten\“, der sich zum Doping im Radsport äußert – Michel Friedman. Har har. Ein großer Teil der Kommentare zielt bis jetzt auf die Person, obwohl der Mann inhaltlich Recht hat. Für die Diskussion (und ihn) wär\’s besser gewesen, Friedman hätte die Möglichkeit zur Anonymität benutzt, auch wenn das weniger Echo gehabt hätte.
Es muss ja nicht immer der Informant sein, der um sein Leben fürchten muss, aber es braucht Orte für angst-, weil folgenfreie Meinungsäußerung.

Ich persönlich kommentiere hier und anderswo ja auch nur unter Pseudonym (wird demnächst wieder gewechselt), weil ich über meinen Realnamen zu lokalisieren bin und aus Angst vor Profilerstellung. Blog werde ich, wenn überhaupt, auch nur im Ausland hosten. Die rechtliche Situation hier halte ich nämlich trotz Bemühung um Sorgfalt meinerseits für finanziell zu gefährlich.

Noch was: \“[..]bei denen Anonymität dazu führt, dass letzte Hemmungen verloren gehen\“ .. Das nennt sich \“Dampf ablassen, mangels Alternativen\“ und ist für mich eine wichtige und gewünschte Eigenschaft. Ich sag ja auch nicht, dass alles unmoderiert sein soll.

Antworten

Wolf Lotter 17. Juni 2007 um 15:21

Lieber Kollege Knüwer,
es freut und ehrt mich, dass Sie gleich den guten alten Kurt Tucholsky auspacken, um für die Web-Vermummung zu argumentieren. Wenn ER die Speerspitze Ihrer Argumentation ist, dann ist das Ding stumpf. Tucholsky verwies – wie von Kommentator Clap trefflich und richtig zitiert – darauf, das Pseudonyme das letzte und äusserste Mittel sind. Tucholsky schrieb in der Weimarer Republik. Die scheiterte auch an mangelnder Zivilcourage. Darf ich daran erinnern, Herr Kollege? Die Freiheit, die Sie vorgeben zu verteidigen, ist gar keine, sondern nur kleinbürgerliche Feigheit, die sich von der realen Welt halt ins Internet fortpflanzt.

Nochmals zum Mitschreiben für alle, die es nicht begriffen haben: Es geht nicht zum Zensur, sondern um offene Kritik, die sich eben nicht führen lässt, wenn man sich vermummt. Dass die Kappe überm Kopf nur dazu führt, dass Aggressivität normalisiert wird, konnten Sie zuletzt in Heiligendamm sehen. Aber was soll es: Ein Depp bleibt ein Depp, ein Feigling ein Feigling, und Vorurteile stehen in diesem Land sowieso unter Denkmalschutz. Ich kann dies weder verhindern noch will ich es – aber gesagt wollte ich es haben. So renitent bin ich doch – insbesondere, wenn Sie Kurt Tucholsky vergewaltigen, die Weimarer Republik mit der Bundesrepublik vergleichen und jeden paranoiden Wichtigtuer mit Internetanschluss mit einem potenziell politisch Verfolgten gleichsetzen. Sie verteidigen nicht die Freiheit, sondern den Schwachsinn.
Denken Sie beim nächsten Mal einfach an Tucholsky, ganz uninterpretiert. Zum Beispiel seinen schönen und dauerhaften Satz: \“Der Vorteil der Klugheit besteht darin, daß man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwierig.\“
Schwierig. Aber nicht unmöglich. Versuchen Sie es.

Herzliche Grüsse Ihres Wolf Lotter

Antworten

Pseudonym 15. April 2009 um 11:19

Tucholsky ist hier ein schlechtes Beispiel. Er trug seine Pseudonyme nicht, um sich dahinter zu verstecken. Sie gaben ihm nur die Möglichkeit seine vielen Facetten in ausreichendem Maße auszuleben. Es mangelte ihm ganz gewiss nicht an Mut. Auch in der Weimarer Republik gab es Menschen, die zu ihrem Wort standen. Die Pseudonyme trugen nur besondere Aufgaben bzw. Genres, da Tucholsky annahm, er würde seine Glaubhaftigkeit verlieren, wenn er auf zu unterschiedlichen Gebieten unter einem Namen schreibt. Artikel, die ihm am Herzen lagen veröffentlichte er sehr wohl unter seinem Namen.
Im Gegensatz zu Ihnen nahm er seine Anonymität auch mit Humor.

Antworten

Du hast eine Frage oder eine Meinung zum Artikel? Teile sie mit uns!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*
*