In meinen zynischsten Momenten ploppt beim Konsum deutscher Medien eine Frage in meinem Kopf auf: Wenn wir Knall auf Fall alle Medien abstellen würden, also alle Redaktionen schleßen, egal ob Online, Print, TV oder Radio, wäre unsere Gesellschaft friedlicher, geeinter und demokratischer?
Ich glaube: ja.
Und das erschüttert mich immer wieder.
Damit will ich nicht den Lügenpresse-Schreiern und Faschisten Recht geben. Doch halte ich den aktuellen Zustand des weiteren Teils der demokratischen Medien nicht für einend, sondern für emotional aufputschend und polarisierend.
Das trifft selbst Medien, bei denen man das nicht erwarten würde.
Nehmen wir „Die Zeit“: Sie führte 2019 ein neues Ressort ein. Es war kein Investigativ-Ressort, keine Faktenrecherche oder Fake-News-Konter. Nein, es war das Ressort „Streit“. Gerade so, als ob es nicht genug davon gäbe. Aber ein „Streit“ ist eben schnell in die Tastatur gehauen, für einen „Streit“ muss kein Redakteur vor die Tür treten und eklige Reisekosten produzieren, für Streit braucht es keinen Aufwand. Noch ein Beispiel: „Die Zeit“ berichtet ausführlich über den Sorgerechtsstreit einer Hamburger Steakhauskettenbesitzer-Familie und zitiert dabei sogar aus Vernehmungsprotokollen der beteiligten Kinder. Der Sprecher des Oberlandesgerichts Hamburg nennt dies gegenüber Übermedien „schlimme Grenzüberschreitung“ und „Tiefpunkt der medialen Begleitung des Falles“, Rücksicht auf die Minderjährigen werde dem Nachrichtenwert geopfert.
Es gibt praktisch kein Medium außerhalb des öffentlich-rechtlichen Spektrums mehr, bei dem Instrumente des Boulevardjournalismus nicht Alltag wären. Und dazu gehören bunte Meldungen, das Suchen von Streit und das Anpieksen von Leseremotionen durch Boulevard-Schlagzeilen.
Dieses Prinzip des Boulevard-Journalismus sei noch einmal erwähnt: Einst mussten Zeitungsjungen knackige Schlagzeilen rufen, um ihre Blätter zu verkaufen. Deren Ziel des Zeitungsverkaufs ist heute der Klick. Die meisten Redaktionen bestehen im Produktionsbereich aus kleinen Zeitungsjungen und -mädchen, die alles rausschreien, um den Klick auszulösen. Ob die Kundschaft dann zufrieden ist mit dem, was sie hinter dem Klick vorfindet – das ist ihnen so egal wie den Zeitungsjungen von einst die Zufriedenheit der Print-Leser.
Ausgelöst werden Klicks mit Emotionen, Neugier und den Inhalten, die den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den Menschen bilden. In der Kaffeeküche wird eher über den Sorgerechtstreit einer reichen Familie geklatscht als über den Kantschen Imperativ. Und deshalb funktioniert „Grottenschlechtes Gesetz: FDP-Mann zerlegt Habeck bei Lanz – dann macht er Wärmepumpen-Geständnis“ („Focus, 21.6.2023) besser als eine sachliche Erörterung der Vor- und Nachteile einer Wärmepumpe. Noch dazu muss man nur Fernsehen gucken und nicht dieses anstrengende Recherchieren betreiben.
Doch wer klickt, landet schnell vor einer Bezahlschranke, bekommt also nur die boulevardesk verfasste Überschrift mit. Eine Überschrift, das muss auch festgehalten werden, die häufig nicht vom Autoren selbst verfasst wurde, sondern von der Produktionseinheit.
Der Glaube der Verlage ist: Wer häufig genug vor solch einer Bezahlschranke landet, der bezahlt irgendwann. Die Verantwortlichen konnten sich bestätigt fühlen, denn die Zahl der Digitalabos stieg ja. Und wenn sie ganz fest die Augen schlossen, konnte sie sich sogar einreden, dass diese Entwicklung nicht darauf basierte, dass sie immer mehr Sonderangebote machten und viele dieser Abos zu Beträgen über das Paypal-Konto gingen, die eine dauerhafte Finanzierung des Verlagspersonalstandes nicht ermöglichen würde.
Wer also ohne Abo einen Blick auf deutsche Nachrichtenseiten wirft, der muss das Gefühl haben, in einem Sturm zu leben, in einem „Chaos“ (früher war ja mehr starker Schneefall, heute sind 27 Flocken ein „Schneechaos“), überall Kämpfe, Schlachten, Attacken, alles ist Mega und sicher bald Giga.
Ich behaupte: Es wäre rein logisch, wenn diese Situation einer der wichtigsten Treiber, vielleicht gar der wichtigste, wäre bei der Spaltung und aggressiven Aufladung unserer Gesellschaft.
Längst aber ist eine Generation von JournalistInnen herangewachsen, die glaubt, das ginge halt nicht anders. Ein alltägliches Beispiel:
Da wünscht sich der Moderator Aurel Mertz, dass die Angst der jüdischen Menschen in Deutschland nicht hinter einer Bezahlschranke verschwindet, damit mehr Menschen davon erfahren. Und Jonas Leppin, Chef des Newsdesk von Spiegel Online, antwortet, dass das nun mal so sein müsse.
Korrektur: Hier stand fälschlicherweise, dass Leppin Journalismus heute für kostenintensiver als früher hielt. Das war von mir falsch dargestellt.
Fun Fact: Früher hingen Zeitungen für jedermann lesbar in der Innenstadt aus – nicht nur die „Prawda“:
In mehreren Artikeln habe ich versucht darzulegen, wie es anders gehen könnte. Wenn Sie dies en Detail lesen möchten, dann gerne hier entlang. Eine aktuelle Version gibt es auch als Videoform:
Vielleicht ist das, was ich da geschrieben und gesagt habe, totaler Unfug.
Wenn man aber der Überzeugung ist, dass unsere Gesellschaft mehr Informationen braucht, statt weniger. Und wenn wir deshalb Journalismus für existenziell in einer Demokratie halten (beidem stimme ich zu), dann muss man eben alles tun, um Informationen öffentlich zu machen für jedermann – und nicht nur für diejenigen, die sich diese Informationen leisten können.
Denn Schwurblermedien, von Putin bezahlte Text- und Videoknechte, Fake News und rechtsradikale Medienangebote – die gibt es umsonst. Jeder Text, jedes Video und neuerdings jeder Podcast, vor dem eine Paywall steht, hilft Faschisten und Antidemokraten, weshalb die Behauptung „Journalismuss MUSS Geld kosten“ ein Beitrag zur Spaltung der Gesellschaft darstellt. Vielmehr muss es heißen „Journalismus DARF kein Geld kosten – aber wir müssen alles tun, um ihn zu finanzieren.“
Und das ist der Grund, warum jede Journalistin und jeder Journalist, jeder Verlagsmitarbeiter und jede Verlagsmitarbeiterin mit Händen und Füßen dafür kämpfen sollte, Paywalls zur letzten Alternative der Finanzierung zu machen.
Kommentare
Matthias Morr 23. Februar 2024 um 12:06
Danke für die Erinnerung an die Zeit, als Zeitungen noch kostenlos in der Innenstadt aushingen – das hatte ich tatsächlich vergessen. Und kostenlos lesen kann man ja zumindest Magazine auch heute noch im Zeitschriftenladen. Fast noch schlimmer als die Paywalls finde ich aber die Reichweitenportale „renommierter” Verlage. Es muss doch den Mitarbeitern dort klar sein, dass das überhaupt nichts Nachhaltiges ist. Wer nur Klicks um jeden Preis will, wird mit dieser Methode niemals loyale Fans gewinnen.
Ben 23. Februar 2024 um 13:56
Kostenlos lesen kann man vor allem auch in Bibliotheken. Geht mal in einer Großstadt in die Hauptbibliothek, da sitzt fast immer irgendjemand eine Zeitung lesend. Früher war es ja auch ganz normal ins Cafe zu gehen und da eine der aushängenden Zeitungen zu lesen. Das schlimmste an den Paywalls finde ich, dass man immer gleich ein komplettes Abo für die Zeitung/das Magazin abschließen soll. Nur ein paar Cent für den konkreten Artikel nehmen? Nee, lieber schickt man die interessierte Person uninformiert mit der Click-Bait-Überschrift im Kopf wieder weg…
Calvero 23. Februar 2024 um 17:26
Der Zug ist wohl lange abgefahren. Paywall-Abo-Lock-Fallen plus Outbrain & Co.- Zuspamung haben sich als am lohnendsten herausgestellt. Nun geht es nur noch darum, dieses Modell zu optimieren hinsichtlich der Conversions und CTR. Hätte man vor 20 Jahren gedacht, dass jemand fürs Lesen von Edelfeder-Kommentaren ein Abo abschließen würde?
Und ja, in Vor-Internetzeiten war das Lesen von FAZ plus ZEIT plus Spiegel plus stern plus Lokalzeitung plus Fachmagazinen usw. auch nicht für billig bzw. simpel möglich. Heute kann ich mit 10 Euro Bibliotheks-Jahresbeitrag sehr sehr viel lesen via Pressreader oder mit Unterbrecherwerbung bei READ-IT.
Und mal ehrlich: Wie groß ist die Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung von dem, was die privatwirtschaftlich betriebenen Nachrichtenportale nun hinter ihre Paywalls stellen? Vom ÖRR gibt es zudem sehr sehr viel Content, zwar auch nicht kostenlos, aber frei zugängig.
Georg Watzlawek 23. Februar 2024 um 18:16
Danke für die klare Haltung. Wir werden gerade in der Branche immer mal wieder für verrückt erklärt, weil wir bei der digitalen Lokalzeitung „Bürgerportal Bergisch Gladbach“ auf jede Paywall verzichten und uns vor allem durch freiwillige Beiträge der Leserinnen und Leser finanzieren. Daher definieren wir die „Freiheit der Presse“ unter anderem auch so:
https://in-gl.de/2023/05/06/zur-freiheit-der-presse-in-bergisch-gladbach-buergerportal-kostenfrei/
Wir haben sogar einen Kasten auf dem Marktplatz stehen, in dem wir Kurzfassungen unserer wichtigsten Beiträge aushängen. Frei und kostenlos zugänglich.
Wobei aber eine Frage noch aussteht: Wie finanziert man diese Art von frei zugänglichem Journalismus nachhaltig und auskömmlich? Sehr groß ist die freiwillige Zahlungsbereitschaft noch nicht. Und auch das Stiftungsmodell funktioniert in Deutschland bislang nicht.
Besim Karadeniz 24. Februar 2024 um 17:02
Den Verleger machen die Auflagezahlen froh. Oder die Klickzahlen. Dass der Klick üblicherweise dann vor der Paywall endet, ist letztlich Wurst, Hauptsache Klick und mit den so zusammengeschusterten Klickzahlen kann man jeden Werbekunden beeindrucken, auch wenn das Werbeumfeld vor einer Paywall ja eigentlich keines ist. So einfach ist die Verlegerwelt.
Christine 26. Februar 2024 um 9:00
Ich finde es nicht bedenklich, wenn Journalismus Geld kostet. Aber ich finde es in der Tat bedenklich, wenn Fake-Schrei-Nachrichten einem kostenlos hintergeworfen werden, ich mich um echte Nachrichten aber bemühen muss. Mir fällt das leicht, weil ich gelernt habe, Medien nach dem Wahrheitsgehalt einzuordnen. Aber dem Gros der Bevölkerung mag das nicht so leicht fallen! Natürlich kann man sich unabhängig und kostenlos informieren. Aber das kostet Mühe und Zeit. Und warum soll jemand die investieren, wenn die schönen bunten einseitigen Nachrichten so einfach zu konsumieren sind?
…. und am schlimmsten finde ich in dem Zusammenhang, dass der Bundeszentrale für politische Bildung der Etat gekürzt werden soll.
Thomas 26. Februar 2024 um 11:05
Die Frage ist doch: Wie kann ich den Wahrheitsgehalt eines Artikels einschätzen, wenn ich beim Thema des Artikels ein Laie bin? Ich erinnere mich nur zu gut an die unsäglichen Zeiten der Killerspieldebatten, in der selbst seriöse Medien in einer unerträglich reißerischen Art und Weise über das Thema berichtet haben und so ziemlich jedem Gamer klar war, dass die Macher so rein gar keine Ahnung von dem haben, worüber sie da berichten. Mich überkam damals, als jungen Erwachsenen, zum ersten Mal die Erkenntnis, dass man nicht alles glauben darf, was irgendwo in einer Zeitung abgedruckt oder den Nachrichten gesendet wird. Und seitdem frage ich mich regelmäßig, bei welchen Themen die Damen und Herren Journalisten denn noch schlampig berichten und was man denn überhaupt noch glauben kann, auch abseits von Boulevard.