„Ich bin zum vierten Mal hier und weiß zur Hölle immer noch nicht, was das hier ist. Ich wurde überrascht über den hohen Anteil von bärtigen Männern mit Sonnenbrillen. Geht nur sicher, dass ihr den richtigen Mann mit nach Hause nehmt.“
Endlich wieder Ideen.
Endlich wieder Menschen.
Endlich wieder Austin.
Endlich wieder SXSW.
Wenn mir 2011, als ich zum ersten Mal von der wichtigsten Digitalkonferenz der Welt zurückkehrte, jemand erzählt hätte, dass ich Austin und seine SXSW derart vermissen würde, ich hätte schallend gelacht.
Doch nichts inspiriert mich mehr als die Tage in Austin, diese Ausgabe war meine 9. physische. Natürlich: Diesmal war es deutlich leerer. Das hatte aber den Vorteil, dass man in jede Session reinkam, ohne lange Schlange zu stehen. Angeblich waren es 20% weniger Besucher als 2019 – ich halte dies für eine sehr geschönte Zahl.
Doch auch diesmal mischte sich Innovation mit Weltverbesserung mit Marketing mit Politik mit Musik mit Entertainment mit Film mit Food mit Trend. Und, ja, auch mit Party.
Es ist eine Konferenz, ein Festival, ein wildes Durcheinander mit einer dreistelligen Zahl von Veranstaltungen quer durch die Innenstadt von Austin.
Das ist gerade für deutsche Seelen nur schwer zu verstehen. So behauptete ein Gastautor bei „Horizont“ (Schickt „Horizont“ eigentlich noch irgendwohin diese… wie heißen die noch… ach ja: Journalisten? Oder sind die alle abgebaut?), die SXSW sei eine „Messe“.
Nein, die SXSW hat nur einen kleinen Messebereich zur Refinanzierung, an dem man sich in der Regel mal zwei, drei Stunden aufhält.
Die brutale Vielfalt der SXSW macht ihre Definition so schwer, wie das Zitat im Video ganz oben zeigt. Deshalb ist es schon vermessen, „die Trends“ des Festivals zusammenzufassen. Waren es diesmal Insekten als Proteinquelle? NFT? Das Metaverse? Digitale Technologie im Sportbusiness? Die Verkehrswende? Die Digitalisierung des Gesundheitswesens? Sex-Toys? Robot Investing?
In Austin trifft sich eine hohe Zahl von Interessensgruppen und Subkulturen, weshalb natürlich niemand auf die Idee kommen würde, sogar „das“ dominierende Thema auszurufen.
Oh.
Äh… Was?
Als unsere vierköpfige Airbnb-Wohngemeinschaft diesen Text am Abend des ersten SXSW-Tages sah, war die kollektive Reaktion recht gut beschrieben mit:
HÄ?
Denn tatsächlich war die Ukraine bei keinem der ein Dutzend Panels, die wir einzeln oder gemeinsam an jenem Freitag besucht hatten, ein Thema gewesen. Nur bei einer Session von Porsche und Pixar kündigte der Autohersteller an, eine erhebliche Summe zu spenden.
Also bat ich die Autoren um eine Stellungnahme. Und was sie mir schrieben, macht mich auch jetzt noch ein Stück weit sprachlos:
„Der Artikel ist ja vor Beginn der Veranstaltung erschienen. Er konnte sich daher natürlich noch nicht auf Aussagen von Panels oder Sessions beziehen. Die Gespräche haben wir alle im Vorfeld geführt. Wie Sie unserer Berichterstattung über die ganze SXSW entnehmen können, ist der thematische Fokus natürlich sehr breit. Unser Eindruck ist, dass dennoch die Ukraine und der Krieg dominante Themen sind.“
Man imaginiert in deutschen Redaktionen Themen einer Konferenz mit einer insgesamt vierstelligen Zahl von Themen vorab, was dominiert und erzählt dem Leser nicht einmal, dass dies Kaffeesatzleserei ist.
Ich, in meiner aktiven Zeit als Journalist, hätte dies als unjournalistisch empfunden und hätte mich auch nicht getraut, so zu agieren – aber ich bin ja nur ein alter Sack.
Übrigens blieb die Ukraine ein Nicht-Thema auf der SXSW, weshalb die Autoren bei einem Interview mit Trendforscherin Amy Webb die Rede darauf brachten – obwohl Webb auf der Bühne kaum davon gesprochen hatte. Als quantitative Futurologin kann sie auch noch gar keine Daten dazu haben.
Nun gut, kommen wir aber zu dem, was tatsächlich auf der SXSW so passierte – also auf dem Teil der SXSW, bei dem ich zugegen war.
Vorangeschickt sei dabei ein Zitat von Nick de la Mare, dem Nordamerika-Chef der Designagentur Fjord:
„Eine Menge der Trends existierten schon vor Covid, wurden aber durch die Pandemie beschleunigt. Wir haben schon vorher damit begonnen, fundamentale Themen zu hinterfragen.“
NFT & Kryptowährungen
Kein Bild steht für mich stellvertretend derart für die Diskussion zu diesem Thema, wie dieses:
In der Mitte sehen Sie Charlottes Selles, die General Managerin von Mondavi, einem der größten Weinproduzenten der USA. Sie wirkte wie beseelt, dass sie zwischen zwei jungen, hippen Damen sitzen darf, links Sydney Lai vom auf Gaming spezialisierten Wagniskapitalgeber Griffin Gaming Partners, rechts die Coachesse Lisa Wang, die Veranstaltungen unter zurückhaltenden Begriffen wie „Bad Bitch Boodcamp“ ausrichtet.
Ganz stolz präsentierte Selles eine Porzellanflasche mit angehängtem NFT, wobei jenes NFT Weinfälschungen verhindern und Community-Building betreiben soll: „Wir sind schon ganz gespannt, was sich die Community von uns wünscht, zum Beispiel Weingutführungen.“
Weingutführungen?Das Basischste, was ein Weingut anbieten kann – mehr fällt ihr nicht ein?
Selles war beim Frage- und Antwort-Spiel ständig anzumerken, dass sie nicht firm im Thema war. Auf die Frage, was die Branche mit NFT außer Fälschungsverhinderung (natürlich ist Weinfälschung auch mit NFT problemlos möglich) und Marketing via Community noch in der Branche damit anfangen könne, sagte sie, es gebe „viele, viele“ Einsatzgebiete – sie konnte nur kein einziges nennen. Lai rettete sie mit der Idee von Smart Contract-Arbeitsverträgen – was ja in jeder Branche ginge.
Ich hatte erwartet, in Austin in den Genuss der sektenartigen Propagandisten von Kryptowährungen und NFT-Sammlungen zu kommen.
Denkste.
Meine größte Überraschung der SXSW war, wie stark das Thema hinterfragt wurde und wie oft im Saal gekichert wurde, fielen Begriffe wie „Bitcoin“, „Ethereum“ oder „Bored Ape“
Diese Unbestimmtheit drang überall durch. Hier einige Beispiele:
„Wir haben keinen echten Use Case für Crypto – aber er wird noch kommen.“
Edward Ongeso, Reporter bei Vice
„Blockchain und Web3 haben enormes Potential, auch wenn ich derzeit keine Anwendung sehe.“
Adam Davidson, Gründer des Finanz-Podcast „Planet Money“ und jetzt beim „New Yorker“
„Web3 ist eine sehr mächtige Idee. Aber es ist eng verbunden mit Kryptowährungen.“
Nicolas Thompson, CEO „The Atlantic“
„Ich habe den den vergangenen 10 Jahrzehnten keine Technologie gesehen, die die Tech-Szene so geteilt hat“, sagte Jacob Silverman, Redakteur bei „The New Republic“, der mit dem Schauspieler und öffentlichen Crypto-Kritiker Ben McKenzie ein Buch zum Thema geschrieben hat („Easy Money“ – Veröffentlichungstermin habe ich noch nicht gefunden).
Ihre Session war eine Hinrichtung von Kryptowährungen und NFT-Wahn: „Man kann den Zahlen nicht vertrauen“, sagte Silverman und führte als Beispiel Wash-Trading an. Dabei verkauft ein NFT-Besitzer an sich selbst um so den Preis hochzutreiben, „bei einigen Währungen werden Leute aufgefordert, Handel zu betreiben, weil sonst die Währung bei einigen Rankings delistet würde, wenn eine gewisse Handelsgroße unterschritten wird.“ Silverman verwies auch auf die Macher hinter den Projekten: „Die meisten in der Branche haben bunte Historien. Wenn man einmal unter die Haube schaut, tauchen die Alarmzeichen sehr schnell auf.“
McKenzie ergänzte, dass er den CEO einer großen Kryptowährung gefragt habe, mit wieviel Fiat-Geld (also Einzahlungen) seine Währung hinterlegt sei. Antwort: gerade einmal 10%. Für ihn sind diese Währungen ein Schneeballsystem: „Und bei einem Schneeballsystem muss man immer mehr Leute in das System bekommen. Also endet es mit Super Bowl-Werbung mit Stars.“ Also dem, was wir im Januar beim Football-Endspiel gesehen haben.
Vice-Mann Ongeso erkennt eine Goldrausch-Mentalität: „Das meiste, was Leute tun ist rechtfertigen, dass eine Menge Handel stattfindet. Sie versuchen das meiste rauszuholen, bevor der Markt reguliert wird.“
Mancher bleibt dann auch im Goldrausch einfach stecken. Nicolas Thompson, der heutige „Atlantic“-CEO, war einst Chefredakteur der „Wired“ und verriet: Die Redaktion hatte früh mit Bitcoin experimentiert, der Wert der Bitcoins habe zu seiner Zeit im zweistelligen Millionenbereich gelegen. Nur: Auch die Redaktion des wichtigsten Innovationsmagazins der Welt wusste nicht mehr, wie sie an diese Bitcoins herankommen konnte.
Auch NFT trafen nur selten auf einhellige Gegenliebe: „NFT als digitale Sammelobjekte sind kein langfristiger Trend“, sagte zum Beispiel Trendforscherin Amy Webb: „Sie haben keinen intrinsischen Wert, ihr Wert entsteht nur durch Verknappung. Aber jetzt gibt es Millionen von NFT – deshalb passt der Vergleich mit klassischer Kunst nicht.“
Das sehen die NFT-Systeme natürlich anders. Etliche waren in Austin vor Ort, alle mit zuckersüßen, kindlichen Comic-Bildern als Verkaufsobjekten.
Die größte Präsenz hatte Doodles – Logo: ein Comic-Junge, der einen Regenbogen kotzt.
Eine Halle, die in den Jahren zuvor von Sony bespielt worden war, verwandelte sich in etwas, was Freunde von Doodle „Markenwelt“ und weniger Wohlmeinende „pastellfarbene Hölle“ nennen könnten.
Doodles verkauft derzeit keine NFT mehr, aber irgendwie dann schon, weil man die Comicfigürchen mit Comic-Raketen ins Comic-All schießen kann. „Die Experience bei Space Doodles erinnert mich an meine Kindheit. Man baut die Rakete und stellt sich vor, wo sie wohl hinfliegt“, sagte Julian Holguin, Präsident beim Musikindustrie-Magazin „Billboard“. So sieht es auch Celine Joshua, Innovationschefin bei Universal Music USA: „Ich habe mich im Doodle-Haus gefühlt wie ein Kind.“
Derzeit geht es den Doodles-Gründern Jordan Castro und Evan Keast darum, die Marke weiterzuentwickeln – und zwar im Einklang der Community aus NFT-Käufern. Diese durften entscheiden, ob Doodles bei der SXSW auftritt, wie die Präsenz aussehen soll und wer das Catering übernimmt.
„Doodles ist ein Experiment wie eine Community von Sammlern Kapital alloziert“, sagte Castro. Mit dieser Einbindung der Gemeinschaft wollen sie das aus ihrer Sicht größte Problem von NFT beseitigen. Keast: „Viele wissen nicht, was NFT sind. Die Kultur der NFT-Szene ist nervig, sie ist merkwürdig. NFT sind nicht nahbar, sie machen Angst… Wir wollen zeigen, dass es nicht um Geld oder Finanztransaktionen geht, sondern um das Erlebnis.“
Dieses Erlebnis endete mit dem Titel der berühmten Banksy-Dokumentation: „Exit through the gift shop“ – eine Doodles-Statue kostete 350$. Künftig soll es vermehrt Bekleidung geben, eine Zeichentrick-Serie steht ebenfalls im Raum.
Vielleicht also sind Marken wie Doodles keine Produzenten für Sammelware, sondern eine neue Generation von Marken, bei denen die NFT nur der Zugang zu einer Community sind, aus der heraus dann die Optik der NFT mit einer Story aufgebaut werden. „Silo Communities“ nannte dies die Anthropologin Astrid Countee von der Beratung Missing Link Studios: „Wir denken zu wenig daran, dass es hier um Menschen geht, die Dinge online tun – nicht ein schlichtes Ding im Internet.“
Und auch Amy Webb steht dem Gesamtthema Crypto und NFT nicht vollständig negativ gegenüber: „Es ist die Infrastruktur hinter NFT und Crypto, die wirklich wichtig ist. Wir erleben vielleicht die Geburt einer neuen Grundstruktur des Internets.“ Zu der gehöre mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch irgendwann eine Blockchain-basierte, persönliche ID im Netz.
Dafür aber sei es jetzt wichtig, die Grundlagendiskussionen zu führen, zum Beispiel darüber, wer die Regeln dieser neuen Infrastruktur setzt – und wer sie durchsetzt.
Eine gute Zusammenfassung der Debatten in Austin zu diesem Thema gibt es bei Indiewire.
Metaverse
2007 recherchierte ich eine kurze Zeit in dem, was heute Metaverse genannt würde: Second Life. Und auch wenn die Apologeten des Metaverse dies vehement bestreiten: Vieles, von dem, was derzeit als Metaverse gehypt wird entscheidet sich nur durch eine minimal besser Grafik von damals.
Vor allem ist es in diesem Metaverse einfach sehr, sehr traurig. Hier zum Beispiel das, was man „Party“ nennt:
Der Ausschnitt stammt aus der Präsentation von Sebastien Borget, dem Gründer von Sandbox, einer Metaverse-Plattform aus Frankreich. Er gehörte zu jenen, die auf konfettieskes Verkaufen einer paillettenglitzernden Zukunft mit ihrem Projekt als Dreh- und Angelpunkt aus waren.
Das „neue Manhattan“ will Sandbox sein, der Ort, an den alle ziehen. Viele seien ja auch schon da, Snoop Dog, zum Beispiel, und rund 200 Marken. Allein: Von denen kamen bis auf Adidas und Gucci praktisch alle aus einem spezifischen, gaming- und entertainment-orientierten Umfeld.
Auch kündigte Borget eine Datenportabilität an, Nutzerinnen könnten problemlos ihre Identität aus Sandbox herausziehen und in eine Welt übertragen – nur welcher Anbieter lässt diesen Import zu?
Dieser Hinweis zeigt aber schon das grundlegende Wahrnehmungsproblem des Themas. Viele glauben, es werde nur das eine Metaverse geben, in dem die Nutzerinnen von Welt zu Welt schreiten.
Das aber werde nicht passieren warf der Trendscout Rohit Bhargava ein: „Wir werden unterschiedliche Profile auf unterschiedlichen Plattformen haben. Bereiten Sie sich auf ihre Identitätsspaltung vor.“
Die Unterschiedlichkeit der Angebote sorgte auch dafür, dass eigentlich nicht ganz klar ist, was „Metaverse“ eigentlich bedeutet. Recht logisch fand ich aber die Definition von Accenture:
Metaverse:
Evolution of the internet that enables user to move beyond browsing to inhabiting in a pesistent shared experience that spans the spectrum of our real world to the fully virtual and in between. Its a place to go where people can meet and interact and where digital assets can be created bought and sold.
Derzeit sei in diesem Feld „das Momentum noch sehr stark im Bereich von ,was kann mein Unternehmen daraus ziehen'“, sagte Nick de la Mare, von der Accenture-Tochter Fjord. Er stellte die Metaverse-Debatte in einen historischen Kontext:
- 1869: Der Central Park erlaubte es Menschen in der Großstadt, Natur zu erleben.
- 1893: Die Weltausstellung in Chicago erlaubte es Menschen, die noch nie gereist waren, ein Gefühl des Reiseerlebnisses zu bekommen.
- 1955: Disneyland erlaubte es Menschen, tiefer in die Geschichten des Disney-Reiches einzutauchen.
Und das Metaverse? Das sei noch offen, meint de la Mare: „Wir befinden und in einer Periode des Lernens, Hinterfragens und Experimentierens. Eine Menge davon ist Versuch und Irrtum.“
Sein Rat an Marken, die den Sprung in das Third Life wagen möchten: „Nähern Sie sich dem Metaverse mit Neugier und Verspieltheit, aber immer mit einem Auge auf Integrität, Ethik, Rücksichtnahme und Respekt für das Umfeld.“
Content Marketing-Comeback (mit Influencern)
Die zweite große Überraschung der SXSW war für mich die Stagnation des digitalen Marketings. Jede der von mir besuchten Sessions hätte weitestgehend auch 2019, bei der letzten physischen SXSW, so gehalten werden können.
Das zeigt: Auch die amerikanischen Marketingverantwortlichen und -dienstleister ringen damit, ihre Thesen für den nächsten Schritt durchzubringen. So war wieder die Rede davon, auf Mikroinfluencer zu setzen, statt nur auf die großen der Influencerbranche. Oder auf Inhalte, statt auf Displaywerbung, die durch die steigenden Datenschutzbeschränkungen drastisch an Effizienz verloren hat. Auch, weil Menschen eine starke Abneigung gegen Werbung entwickelt haben und alles tun, um sie zu vermeiden.
„Die Menschen durchschauen vieles von dem, was wir Marketers tun. Je besser wir das realisieren und uns konzentrieren auf den Aufbau des Vertrauens, desto schneller wird der Rubel rollen“, sagte Megan Estrada, Verbrauchermarketing-Chefin der GenZ-Shopping-Plattform LTK.
Deshalb setze LTK auf Branded Contend und Content Marketing: „Dies bietet die Chance, unsere Marke mit Bedeutung aufzuladen und die Kunden in einer Frequenz zu erreichen, wie es über klassische Medien einfach nicht möglich ist… Das Fernsehen hatte seine Zeit. Aber heute kann jede Marke ihre eigene Plattform haben und so Teil der Konversation sein.“
Dabei sollten Markenverantwortliche einen Mythos endlich vergessen, erklärte die Neurowissenschaftlerin Carmen Simon von der Beratung Corporate Visions: den von der kurzen und sinkenden Aufmerksamkeitsspanne. „Das ist einfach nicht richtig“, sagte sie, auch die Behauptung, wir hätten nur noch die Aufmerksamkeitsspanne von Goldfische sei wissenschaftlich nicht nachweisbar, „wie wollten wir denn überhaupt messen, wie viel Aufmerksamkeit ein Goldfisch hat?“
Das Gegenteil sei korrekt: „Wir sind physiologisch in der Lage, unsere Aufmerksamkeit über Stunden auf etwas zu konzentrieren – nehmen wir nur TV-Serien.“ Und deshalb seien Inhalte, die keine Aufmerksamkeit finden oder die nicht erinnert werden, nicht zu lang – sondern einfach inhaltlich und strukturell ungenügend aufgebaut: „Nur weil man seiner Audience etwas zeigt, heißt es nicht, dass es wahrgenommen wird“.
Gerade die Strukturierung von Information sei wichtig, erklärte Fjord-Chef Nick de la Mare in seinem Vortrag: „Verbraucher können heute jederzeit Fragen stellen und sehr leicht Antworten bekommen. Deshalb ist es heute ihre Erwartung, dass sie diese Antworten auch bekommen.“
Sein Rat: Unternehmen sollten ihre gesamten Informationen überarbeiten und so strukturieren, dass sie über Fragen und Suchmaschinen leicht auffindbar sind. Außerdem sollten sie in den digitalen Kundendienst investieren, so dass KonsumentInnen schnell und unkompliziert alle Informationen bekommen, die sie sich wünschen.
Influencer und Creator sind wichtige Stützpfeiler im Rahmen einer Content-Strategie. Sie wurden in den Panels auf der SXSW auch klar getrennt: Creator sind jene, die zuallererst ihre Inhalte und ihr Image im Blick haben – Marken, die mit ihnen zusammenarbeiten, müssen sich unterordnen. Influencer hingegen produzierten Inhalte mit den Interessen der Marke als oberste Priorität.
Mit Content Marketing und Influencer-/Creator-Kooperationen lasse sich mehr Vertrauen aufbauen als mit klassischer Werbung, fasste Derek Schoen seine Erfahrungen als Director Paid Social & Partnerships bei der Hotelkette MGM Ressorts zusammen. Außerdem seien sie fokussierter, was die Streuverluste gegenüber alten Werbeformen senke.
Und Unternehmen könnten dabei lernen: „Jeder Influencer wird einen kleinen Tick anders mit der Marke arbeiten. Und somit kann man nicht nur sehen, wie deren Audience auf die Marke reagiert – sondern auch, auf welche Tonalität die eigene Audience anspringt.“
Fictional Podcasts (aka Hörspiele)
Eine Netflix-Serie ist aufwendiger als eine Staffel „Derrick“ – und die Hörspiele des Jahres 2022 haben nichts mehr mit dem zu tun, was meine Generation einst von LP oder Kassette hörte.
Vor allem die Amazon-Tochter Audible ist es, die mit extrem aufwendig produzierten Hörspielen das nächste Gebiet vorantreibt, in dem sich die Anbieter von Audioinhalten kabbeln werden. Dabei heißen Hörspiele allerdings nicht mehr Hörspiele – sondern „Fictional Podcast“.
Die gibt es auch schon in Deutschland. Allerdings investiert Audible erhebliche Summen in dieses Gebiet – so waren an der Produktion des Polizeikrimis „Fishpriest“ über 80 Schauspieler beteiligt, der Toningenieur arbeitete sich quer durch New York um Klänge aufzunehmen. Hier ein Ausschnitt des Trailers:
Und: Die Hauptrolle spielt Ethan Hawke. Und er ist nicht der einzige Top-Star, den Audible shanghaite, denn Bob Odenkirk produzierte den Comedy-Krimi „Summer in Argyle“.
Die Schauspieler nehmen die Angebote dankend an: „Ich habe mich nach der Aufnahme gefühlt, als hätte ich ein Theaterstück gespielt – ich hatte das gleiche High“, sagte Hawke. Er sprach und spielte seine Rolle in einer Wochenend-Drehpause in Budapest, zwei Tage mit jeweils acht bis zehn Stunden Arbeit – dann war er durch.
Ob sich Audibles finanzielles Commitment beim Hörer auszahlt? Zumindest bei einem, also mir: Wenn „Fishpriest“ draußen ist, werde ich wenigstens für einen Monat ein Audible-Abo nehmen – denn Hawke strahlte ein so immenses Maß an Begeisterung aus.
Medienunternehmen: das große Kleinteilige
Mehrfach entwarf Buzzfeed-CEO Jonah Perrett auf der SXSW Szenarien der Medien-Refinanzierung. Ich saß neben Chefredakteuren, die begeistert waren, auch ich war es. Heute wissen wir: Pertettis Ideen funktionieren nicht.
Auch diesmal wurde in Austin viel über die Medienwirtschaft gesprochen. Dabei hörte ich aber keinen Entscheider, der so einseitig linear Paid Content und Abos als Zukunft der Nachrichtenfinanzierung propagierte. Stattdessen war ganz viel die Rede von kleinteiligen Einnahmeströmen und Experimenten, niemand aber behauptete, ein Allheilmittel zu besitzen.
Die passte in die These von Trendforscher Rohit Bhargava. Er sieht eine Zeit des „Flux Commerce“ gekommen, in der die Branchengrenzen verschwimmen. Weshalb ein Medienhaus eine Modelinie platzieren könnte und Chanel in das NFT-Geschäft einsteigen könnte.
Eine Absage erteilte er zwischen den Zeilen der Idee von Clickbait: Wer zu sehr um die Aufmerksamkeit bettele, dem misstrauten die Menschen.
Beispielhaft für die Offenheit und Unsicherheit der Medienwelt fand ich das Gespräch zwischen „Atlantic“-CEO Nicolas Thompson und Finanzjournalist Adam Davidson. „The next big thing in media“ war es überschrieben. Doch die Debatte wurde so kleinteilig, dass eine ironische Frage aus dem Publikum lautete: „Was ist eigentlich the next big thing in media?“
So nannte Thompson die Idee der „New York Times“ spezielle Abos für ihr Kreuzworträtsel und ihr Rezepte-Segment einzuführen „genial“: „Sie haben gesehen, dass es nicht genug an Nachrichten Interessierte gibt. Also haben sie sich gefragt, was ihre aktuellen Leser noch an der NYT mögen.“ Davidson sah das eher als Alarmzeichen: „Selbst für die Times sind News ein Untersegment des Entertainment-Packages.“
Der „Atlantic“ experimentiert reichlich, zum Beispiel im Bereich Newsletter. Eine Hand voll Autoren darf Newsletter unter ihrem Namen führen, einige gibt es nur für Abonnenten, andere frei. Ein halbes Jahr geht das schon so, die Ergebnisse seien fabelhaft – aber ein Jahr müsse man derart schon experimentieren, um valide Ergebnisse zu erzielen.
Auch über Blockchain und Web3 machten sich die beiden Gedanken – aber dies nur auf theoretischer Ebene. Davidson: „Man könnte Inhalte so aufsetzen, dass ihre Autoren praktisch mit ihnen verheiratet sind. Wann immer sie gelesen oder wieder verwendet werden, kommt es zu einer Einnahmeteilung zwischen Medienhaus und Autor. Genauso könnten Leser statt eines Abos einen Token bekommen, der sie anteilig an der Wertsteigerung eines Medienunternehmens beteiligt.“
Wichtig ist für Thompson ein strukturierter und ständig laufender Innovationsprozess: „Wir müssen die technologische Entwicklung genau beobachten. Dazu gehört der Besuch der SXSW, um eine Vorstellung von der Zukunft zu entwickeln – und dann das Thema angehen. Nach der SXSW nehme ich 12 Leute in einem Raum und wir reden darüber, was hier besprochen wurde.“
Und dann war da noch Evan Shapiro. Der Film- und Serienproduzent sowie Medienprofessor an der New York University pflegt seit Jahren eine Art Weltraumkarte der erweiterten Medienwelt (also inklusive Social Media und Werbung), gemessen an der Marktkapitalisierung der Unternehmen und ihren Zusammenhängen.
2020 sah sie so aus:
Und derzeit so:
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Trillion Dollar Deathstars und ihr Verhalten setzen den Maßstab für jedes Verhalten.So verkauft Amazon 60% aller Abos für Starz. Paramount verkauft 30% der Abos über Amazon, 20% über iTunes. Android macht 60% bis 70% der Smart-TV-OS aus. Die großen berühren jedes andere Unternehmen im Markt. Rokus Wert sank, weil Google einen Deal mit TCL gemacht hat, deren TV-Betriebssystem auf Android umzustellen. TCL ist meistverkauftes TV bei Walmart.
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Es gibt kein Entweder-Oder zwischen Werbung, Einzelverkauf oder Abo in der Medienfinanzierung. Nur Unternehmen, die flexibel agieren, können überleben. So kann man Disney+ und Hulu nicht nur als Abo sehen, sondern auch werbefinanziert.
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Das Ökosystem wandelt sich von der Boomer- zur GenZ-Zentrierung. Die GenZ kommt auf den Arbeitsmarkt, die „diverseste und depressivste Generation der Geschichte“. Sie ist das komplette Gegenteil der Boomer-Generation, auf die sich Medienunternehmen bislang fokussierten.
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Corporate Content vs Creator Content: Zum ersten Mal ist es freien Kreativen möglich, ein sicheres Mittelstandsleben aus ihrem Tun heraus zu finanzieren – und das ohne klassische Mittelsmänner. Darunter fallen auch neue Kreative wie Creator auf Roblox. Shapiros These: In 5 Jahren wird diese Creator Economy so groß sein wie die Medien-Corporate Economy.
SXSW-Schnippsel
3D-gedruckte Häuser von Icon
Zur SXSW präsentierte Icon sein neues Show-Haus. Das Unternehmen aus Austin will 3D-gedruckte Häuser in Serienfertigung herstellen.
Dabei werden aber nicht die Teile durch das Land gekarrt – sondern die Drucker, die aus einem Zementgemisch die Wände individuell produzieren. Dies wird dann ergänzt mit Holz und Glas. Schon träumt Icon von Baugebieten, in denen eine ganze Reihe Drucker drucken, währen Drohnen die anderen Teile herbeifliegen, beides würde dann von Menschen montiert.
Das Show-Haus in Austin jedenfalls würde ich sofort nehmen. Es soll rund 15% günstiger sein als ein herkömmliches Einfamilienhaus in den USA – aber drastisch stabiler.
Porsche und VW als Sponsor
Nachdem Daimler einige Jahre Sponsor der SXSW war, ist nun der Volkswagen-Konzern an Bord. Während Porsche eine nette Halle mit Studien und ein paar Sessions präsentierte, fiel VW ab.
Zwar war die SXSW der offizielle Starttermin für den Elektorbulli ID.Buzz – doch der wurde in einer Seitenstraße mit einem Ausmaß gehobener Lieblosigkeit vorgestellt.
Den aus Deutschland kommenden Promotoren fiel als tollste Funktion des des ID.Buzz gerade einmal ein, dass sich die Heckklappe öffnet, wenn man mit dem Fuß unter die Stoßstange wischt – eine Funktion die Alltag auf dem Markt ist. Vielleicht traut sich ja 2023 ein Top-Manager auf die Bühne so wie einst Dieter Zetsche.
Headero
Die beste Meme-Kampagne der Tage in Austin lieferte eine Dating-App mit fokussierter Target Group. Headero ist ein Treffpunkt für alle Formen oraler Gelüste.
Das klingt erstmal nach einem Scherz, war aber keiner. Die App war zumindest optisch komplett aufgesetzt. Ob sie funktionierte, oder ob es Dates gab, ist mir nicht bekannt – tatsächlich habe ich kein Medium gefunden, dass die App aufgriff. Unterhaltsam aber war die Werbung: Jeden Tag klebte ein neues, trashiges Plakat an den Säulen rund um das Convention Center.
Pete Buttigieg
Der US-Verkehrsminister war nicht das einzige Kabinettsmitglied bei der SXSW – aber das einzige, das den großen Saal bekam. Und das mit Recht: Buttigieg hat eine fantastische Präsenz, wanderte über die Bühne, beantwortete vor allem Fragen aus dem Publikum und das mit viel Kompetenz und einem ordentlichen Schuss Selbstironie. Beeindruckend.
Musiktipps
Absolut bemerkenswert war der hohe Frauenanteil auf den Bühnen, egal ob Solo-Singer-Songwriterin, komplett weibliche Band oder – was früher ja sehr selten war – gemischte Bands.
Zum Beispiel Noah Vonne. Im Mai erscheint das Debütalbum der Texanerin und nach ihrem Auftritt bin ich extrem gespannt: Sie wirkt wie eine junge Wiedergeburt von Janis Joplin.
Und dann:
Los Bitchos.
Los Bitchos.
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