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Zwei handgemalte Schilder ragen aus der Menge. Ihre Trägerinnen sind sichtlich überfordert mit der Masse Mensch um sie herum. Eine von ihnen weist den Weg zu Säcken und Wasserkanistern und Kartons mit Lebensmitteln am Wegrand, während sie ihrer Mutter deutlich zu verstehen gibt, einfach weiter die Aufkleber zu verteilen auf denen steht: „Run Anyway Marathon 2012“.

Lachende Holländer vermengen sich mit Brasilianern und Italienern, Team-GB-Shirts sind zu sehen und ebenso Trikots von Eintracht Frankfurt und Hertha BSC. Die meisten sind gekleidet wie wir: mit den orangefarbenen Shirts des New York Marathons, darüber die Startnummern. Auf die pappen wir nun die “Run Anyway”-Aufkleber.

Eigentlich sollten wir alle jetzt in Staten Island sein und auf den Größten aller Marathons warten. Doch der ist nach Wirbelsturm Sandy abgesagt. Am Samstag jedoch machte auf Facebook eine Idee die Runde: Run Anyway. Ein Lauf auf der Rundstrecke im Central Park, dem Ort des ersten New York Marathon. Dazu Sach- und Geldspendensammlung und das alles ohne offizielle Zeitnahme und auch ohne Versorgungsstationen. Einfach so, weil Läufer nun mal laufen wollen und das gern für einen guten Zweck.

Auch wir wollen uns die Enttäuschung über die Absage des Rennens aus den Beinen laufen. Nun wenigstens ein, zwei Runden auf dem 10-Kilometer-Kurs für einen guten Zweck, mehr nicht.

Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen: Wir werden tatsächlich an diesem Tag unseren ersten 42,195-Kilometer-Lauf machen.

Wie kann man ans Laufen denken, wenn noch immer viele Menschen in den Küstenbezirken New Yorks keinen Strom und fließend Wasser haben? Da ist eine logische Frage. Schließlich wurde der Marathon doch deshalb abgesagt, weil er nicht durchzuführen gewesen wäre.

Ähm – nein. Die Sache ist komplizierter.

Der Lauf hätte stattfinden können. Und durch seine Absage wurde den Bedürftigen nicht geholfen, vielmehr kam weniger dringend benötigtes Geld zusammen.

Noch am Mittwoch gab Bürgermeister Michael Bloomberg ganz klar grünes Licht: Es würden nur unwichtige Ressourcen von den Rettungen abgezogen, der Marathon setze ein positives Signal für die Stadt und verbreite Aufbruchstimmung – von dieser Position würde er auch nie abrücken. Sein Vorgänger Rudy Guiliani unterstützte ihn öffentlich dabei. Auch nach den Anschlägen des 11. September 2001 sei der Marathon wichtig gewesen.

Und weil Bloomberg das so klar sagte, versuchten die 20.000 ausländischen Teilnehmer alles, um trotz massenhafter Flugabsagen irgendwie an die Ostküste zu kommen. Die allermeisten hätten die Reise absagen können und ihr Geld zurück erhalten. Nun waren sie in der Stadt.

Freitag Abend die urplötzliche Komplettwende. Aus heiterem Himmel erklärt Bloomberg, die Ressourcen seien weiter kein Problem – aber man könne keine Kontroverse um ein Sportereignis haben. Tatsächlich hat sich die politische Opposition aufgebaut und bei Facebook zahlreiche, wütende Gegenstimmen.

Die Reaktionen auf Social Media darf man nicht unterschätzen: Bloomberg hat sich mit Rachel Sterne eine hochfähige Digital-Chefin geholt und mit einem Team ausgestattet. New York setzt den Maßstab beim Einsatz digitaler Technik in Verwaltungen – und in der Verwendung von Social Media. Wir können davon ausgehen: Er hat eine genaue Auswertung dessen bekommen, was da auf Facebook los war.

Die Besucher aus dem Ausland sind sprachlos. Eine Absage aus Gründen der Unmöglichkeit, der Hilfe für die Bedürftigen – kein Thema. Aber um eine „Kontroverse zu vermeiden“? Das Gefühl kommt auf: Bloomberg wollte nicht auf die Wirtschaftskraft der Touristen verzichten, 340 Millionen Dollar Umsatz bringen die Marathoner jedes Jahr in die Stadt. Also fliegt man sie erst ein – und zeigt ihnen dann die lange Nase.

Auch hier ist die Sache komplizierter. Wie die „New York Times“recherchierte, war das Rennen zu keinem Zeitpunkt sicher. So sagte Mary Wittenberg, Chefin des Veranstalter NYRR, am Freitag Morgen in kleinem Kreis, sie sei nicht sicher, ob gelaufen werde. Also Abzocke? Wohl eher Feigheit vor der Opposition: Bloomberg hatte nicht den Mut, sich durchzusetzen – was ihn von Guiliani unterscheidet.

Die Idee eines Untergrund-Laufs passt zu diesem Moment. Es ist das höchste Maß an zivilem Ungehorsam, dass Amerikaner sich leisten. 450 Zusagen hatte der Lauf am Samstag Abend gegen 22 Uhr. Nun sind über 2000 Menschen gekommen. Fünf SUV voll Spenden kommen zusammen, selbst Beifahrer haben in den Fahrzeugen keinen Platz mehr.

Auch wir stellen die Tüte mit unserer Kleiderspende ab und schon wird der Countdown gezählt: „Five, four, three, two, one…“ Jubel bricht aus, eine bunte Masse Läufer macht sich auf den Weg. Wir werden überholt vom „Black Forest Team“, die erzählen, es habe sich ohne Facebook in ihrem Hotel herumgesprochen, dass im Central Park was passieren soll. Eine Gruppe Holländer hat ihren eigenen Zielbogen mitgebracht, Brasilianer feuern Mexikaner mit „Mexico, Mexico, ra-ra-ra“ an und ernten ein lautes „Brasil! Brasil!“

Am Rand stehen die Angehörigen der ausländischen Läufer und feuern an, neben ihnen New Yorker mit einem Kaffeebecher oder einer Hundeleine in der Hand – und im Wortsinne offenen Mündern. „This is crazy“, hören wir im Vorbeilaufen.

Viele starten für einen guten Zweck, andere im Andenken an verstorbene Angehörige oder Freunde, manche als Teil einer persönlichen Katharsis. Da ist der Veteran, der für einen gefallenen Kameraden läuft, „Im Andenken an Ma“ steht auf dem Trikot einer Amerikanerin, zahlreiche Teams laufen zu Gunsten von Organisationen gegen bestimmte Krankheiten, von Krebs bis Alzheimer.

In den Tagen zuvor hatten viele auf Facebook erklärt, nun für den Rettungsfond des Bürgermeisters zu laufen. Auch ich war gerade dabei, etwas Entsprechendes aufzusetzen als am Freitag die Meldung der Absage kam.

Die hat all diese Spendenbemühungen zunächst erledigt. Nicht nur den Hilfsbedürftigen in New York und New Jersey sind Millionen entgangen, sondern zahlreichen anderen Organisationen. Und all das Anwerben von Freunden, die auf Spendenplattformen Geld für jeden gelaufenen Kilometer versprachen – alles umsonst.

Ein Grund mehr für die Wut im Bauch vieler Läufer. Nicht, dass der Marathon abgesagt worden war, sondern wie, sorgte für gewaltigen Ärger. Denn weder war die Reise nun stornierbar, noch erhält man seine Startgebühr zurück.

Diese Erstattung wäre auch gar nicht möglich. Die NYRR ist eine gemeinnützige Organisation, die sich ähnlich finanziert wie die Fifa oder das IOC: Während eines sehr begrenzten Zeitraums, zum Beispiel den Olympischen Spielen, kommt eine hohe Summe Geld in die Kasse – und das wird über einen längeren Zeitraum verbraucht. Würde die NYRR das Geld zurückzahlen, könnte sie ihren Betrieb einstellen. Denn während des Jahres organisiert sie zahlreiche Schul- und Nachwuchsläuferprogramme sowie kleinere Läufe. Deshalb auch ist sie generell unkulant: Wer, aus welchen Gründen auch immer, seine Meldung zurückziehen muss, erhält zwar eine Startgarantie für das Folgejahr – doch er bekommt kein Geld zurück, und muss ein Jahr später nochmals zahlen.

Beliebt ist die NYRR bei den Marathonern deshalb nicht. Sie wird als Geldhai empfunden, dem die Läufer egal sind. Viele machen das fest an der dürftigen Kommunikation. Schon vor Sandy beantwortete sie selbst Alltagsanfragen auf der Facebook-Seite der Veranstaltung nicht. Ohne Vorwarnung wollte sie den Transport persönlicher Gegenstände vom Start zum Ziel einstellen. Als sich die Wut auf Facebook entlud organsierte die NYRR zwar einen „Chat“ – beantwortete aber in einer Stunde gerade mal fünf Fragen.

Wir reden hier auch nicht von einem kleinen Nachbarschaftsverein. Die NYRR setzt im Jahr 60 Millionen Dollar um: Da sollte eine Stelle für Social Media-Kommunikation im Jahr 2012 schon drin sein. Noch dazu kann sie sich auf tausende von Freiwilligen stützen. Stattdessen wurde ein in Ehren ergrauter Norweger, der in diesem Jahr seinen 34. New York Marathon in Folge gelaufen wäre, zur wichtigsten Informationsquelle. Er beantwortete auflaufende Fragen auf Facebook teils im Minutentakt.

Es kam noch schlimmer in Sachen Social-Media-Misskommunikation. Mitte der Woche, nachdem Bloomberg scheinbar grünes Licht gegeben hatte, verwandelt sich die Facebook-Seite der Organisation in ein hässliches Meinungsforum der 90er Jahre. Ein Shitstorm bricht los, der sich nicht gegen die NYRR richtete – sondern gegen die ausländischen Läufer. New Yorker – und ein substanzieller Teil Amerikaner aus ganz anderen Gegenden – beschimpften die Marathoner in unflätigster Art und Weise. „Idioten“ – „Nehmt das nächste Flugzeug nach Hause“.

Und „Elitisten“, immer wieder „Elitisten“.

Offenbar wird, dass ein gehöriger Teil der Amerikaner es für ein Privileg der Reichen hält, Zeit zum Trainieren für einen 42-Kilometer-Lauf aufbringen zu können. Das ist vielleicht verständlich in einem Land, das eine so weite Einkommensschere aufweist wie die USA, einem Land, in dem viele Menschen zwei Jobs brauchen, um einigermaßen über die Runden zu kommen. So zitiert die „New York Times“ einen Bewohner Brooklyns: „People here are not into the marathon. It’s disturbing. For hours you can’t park, you can’t go through the streets. Today, we like it better. It’s quiet. We go and come.“

Tatsächlich ist Marathon ein Sport der Mittelklasse. Auf der Facebook-Seite schreiben viele ihre Geschichte auf, warum sie laufen und dass der New York Marathon ihr Traum gewesen sei, den sie sich nun auf Jahre nicht erfüllen können – weil das Geld eben weg ist. Auch sie werden beschimpft. Die NYRR? Schweigt.

Dabei hat sie es sich auf die Fahnen geschrieben, für den Laufsport zu werben, Menschen zum Sport zu bewegen, Geld für den guten Zweck zu sammeln. Nun zeigt sich: Über all die Jahre hat sie darin versagt, den Sport zu erklären. Folge: Der Marathon hat keine Lobby in der Stadt obwohl er ihr 350 Millionen Dollar Umsatz bringt.

Keine Kontroverse dagegen gibt es um die Basketball-Spiele der Knicks und Nets oder das Football-Spiel der Giants am gleichen Wochenende wie der abgesagte Marathon. Zu dem fahren 80.000 Menschen vor allem mit dem Auto, denn die Zugverbindung ist unterbrochen. Sie tun dies unter Verbrennung einer wichtigen Ressource: Benzin und Diesel. Stunden warten Autofahrer, vor allem aber auch Taxis und Limousinen vor den Tankstellen – der Sturm hat das Versorgungssystem zusammenbrechen lassen. Doch auch die Generatoren in den stromlosen Häusern werden damit betrieben. Dass diese Ressource für Passivsport verbraucht wird wird, interessiert die Stadtspitze nicht.

Aber die Giants werden doch sicher benefizistisch etwas auf die Beine gestellt haben? Nun ja. Sie haben Lebensmittel gesammelt. Nur: Das tun sie jedes Jahr um diese Zeit, die Aktion war seit Monaten geplant und angekündigt.

Wo wir bei Prioritäten sind:  Ein Hilfszentrum an der Lexington musst seine Lagerhalle räumen – sie war gebucht worden für eine Dessous-Show von Victoria’s Secret. Erst als die Geschichte in der “New York Post” landete spendete Victoria’s Secret die verwendeten Generatoren. In New Jersey durften Helfer dagegen nicht antreten –weil sie keine Gewerkschaftsmitglieder waren.

Irre? Ja. Aber tatsächlich läuft ja ein weiter Teil des New Yorker Lebens, nämlich das meiste oberhalb der 30. Straße von Manhatten praktisch normal. Der Times Square ist voll, die Restaurants auch, die Met spielt “The Tempest” (kein Scherz).

Aber was wäre mit dem Marathon gewesen? Auch dieser hätte Generatoren gebraucht, eine überschaubare Menge – und sie wäre kleiner gewesen, hätte man auf Bühnen verzichtet. Die Generatoren am Central Park wurden so dringend benötigt, dass sie am Montag noch immer am gleichen Ort standen.

Keiner der Läufer hätte sich über ein geringeres Maß an Showprogramm beschwert. Das Sicherheitspersonal wäre von Privatfirmen gekommen oder aus den Reihen pensionierter Polizisten. Diese hätten für ihre temporäre Reaktivierung – eine Maßnahme, die nicht ungewöhnlich ist – eine Entlohnung erhalten, die Polizei hätte ebenfalls Geld eingenommen. Davon blieb nun – nichts. Denn der Bürgermeister schätzte die Notlage nicht so hoch ein, als dass für die Sturmopfer eine Rentner-Rekrutierung geboten gewesen wäre.

Viele der zum Nichtlaufen Gezwungenen kritisierten auf Facebook, der New York Marathon sei ohnehin nur noch ein kommerzielles und seelenloses Ereignis. Fred Lebow, meinen sie, hätte das nie zugelassen. 1970 organisierte er den ersten Marathon in der Stadt, ein paar hundert Läufer drehten knapp über vier Runden durch den Central Park.

Einfach ist dieser Kurs nicht gerade. Der Marathon in New York gilt als besonders herausfordernd, weil er hier im Central Park endet und kurz vor dem Ende ein unschöner Anstieg wartet. Diesen Anstieg haben wir nun pro Runde zweimal: einmal auf der Ost-, einmal auf der Westseite. Wir laufen ihn entgegen der Richtung, die für den Marathon gedacht war. Doch das tun nicht alle: Im Gegenverkehr wird gegrüßt und gejubelt, in dieser ersten Runde sind alle berauscht von dem Gefühl tun zu können, weshalb man hier ist: gemeinsam laufen. Es entsteht eine Vibration des „Yes, we can“. Und das obwohl es keine Versorgungsstationen gibt, in der Hand liegt immer eine Wasserflasche, gekauft bei einem der Parkhändler, die Taschen sind gebeult von Energieriegeln und -gels.

Nach der ersten Runde wieder im Zielbereich: Es ist noch voller geworden. Offensichtlich hat sich in den Läuferhotels weiter herumgesprochen, dass hier ein Lauf stattfindet. Viele starten erst jetzt, begleitet von lauter werdenden Anfeuerungen.

Das macht richtig Spaß – also noch eine Runde.

Besonders giftig ist die Westseite des Central Parks. Es ist ungefähr elf Uhr, unsere zweite Runde nähert sich dem Ende.

Und dann sind sie da.

Die New Yorker.

Mit Wasserbechern und -flaschen, die sie den Läufern hinhalten. Mit Gatorade und geschnittenen Bananen. Mit Salzbrezeln und Power-Gels. „Go Runners!“, rufen sie. „Thanks for coming to New York!“, steht auf einem Schild, eine ältere Frau ruft „We feel your disappointment!“ Aus Dutzenden werden Hunderte, aus Hunderten werden Tausende. New York wie aus dem romantischen Kitschfilm.

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Unsere zweite Runde ist vorbei, wir glätten unsere überklebten Startnummern. Weiter? Weiter! Wir beschließen: Wir werden heute unseren ersten Marathon laufen.

Im Zielbereich wird das Gedrängel stärker, nur noch Gehen ist möglich. Dann traben wir wieder los und es wird noch mal lauter. Aus einem Weg mit ein paar klatschenden Angehörigen ist ein Spalier geworden mit anfeuernden Einheimischen und Kindern die Hände heben zum High Five. Das Rolli-Team „Veteran“ aus Dänemark surrt an uns vorbei, die Polizei versucht die rechte Spur für Notfallfahrzeuge freizuhalten – ein utopisches Unterfangen. Die Läufer haben die Macht über den Park übernommen.

Die ersten Kamerateams sind nun da, ein Hubschrauber kreist. Bei einer Toilettenpause schaut eine New Yorker Läuferin auf ihr Handy: „Messages are popping up like crazy. Everyone’s asking what the hell is going on here?“

Offensichtlicher ist eine andere Frage: „Wäre es nicht besser zu helfen und in die Krisengebiete zu fahren?“

Die nicht so offensichtliche Antwort lautet: Nein.

Es ist ein Weltbild aus der „Bild“, Fox News oder schlechten Hollywood-Filmen, dass die beste Hilfe das persönliche Anpacken ist. Tatsächlich akzeptieren am Samstag viele Hilfsorganisationen keine Freiwilligen mehr. Und ganz oben auf der Volunteer-Seite der Stadt steht als mögliche Aktivität das Aufräumen von Parks.

Die Hilfsorganisation New York Cares berichtet der „New York Times“ von Freiwilligen, die einfach nichts zu tun hätten – weil es nichts zu tun gibt. Bloomberg selbst fordert am Sonntag auf, Sachspenden einzustellen, weil viele der Notunterkünfte mehr hätten, als sie realistischerweise bräuchten. In den besonders schlimm betroffenen Bereichen von Staten Island verstopft Volunteer-Tourismus die Straßen: Teilweise im Minutentakt klopften unorganisierte Helfer an die Haustüren des Viertels New Dorp. So viele sind es, dass die Polizei Straßen sperren und den Verkehr regeln muss. Die „New York Times“ trifft eine Frau, die Stunden lang im Volunteer-Stau stand um eine Ladung Hilfsgüter abzugeben – nur um an der Tür der Notunterkunft abgewiesen zu werden.

Und da sollen nun Touristen helfen, die weder das amerikanische Hilfssystem ausreichend kennen, noch die Gegenden? Die mit einem Stadtplan (Orientierung mittels Handy ist wegen umgestürzter Mobilfunk-Masten nicht möglich) umherirren? Nein, das ist keine Hilfe – das wird schnell ein Hindernis.

Was hilft? Ganz brutal: Geld.

„But what would be the most helpful is donations to the Mayor’s Fund to Advance New York“, sagt Bloomberg selbst. Denn sobald der Strom wieder da ist und das Wasser fließt, wird auch der Medien-Circus weiterziehen – es ist schließlich Wahl. Zurück bleiben jene, die es am schlimmsten traf: die, deren Häuser zerstört wurden, sei es durch Flut oder durch den Großbrand in Queens. Viele der Schäden werden nicht durch Versicherungen gedeckt, der Amerikaner an sich hat es ja nicht so mit der Absicherung. Die Banken werden trotzdem auf die Zahlung ihrer Hypotheken bestehen und so droht vielen Menschen die Zwangsversteigerung eines Grundstücks, auf dem Ruinen stehen.

Hier hilft nur eines: Es muss genug Geld zusammen kommen, um diese Häuser wieder aufzubauen, ansonsten verlieren Menschen tatsächlich ihre Existenz. In dem Medien werden sie erst in 12 Monaten wieder auftauchen, wenn an den Jahrestag von Sandy erinnert wird.

Dieses Geld sollte maßgeblich bei der ersten landesweiten Übertragung des New York Marathon gesammelt werden. Das Sendungskonzept war umgestellt worden, eine Telethon sollte es werden, also eine Spendensammel-Sendung. Daraus wurde – nichts.

Die Absage des Marathons kennt nur Verlierer. Der größte von ihnen könnte die NYRR werden – denn ihr Überleben könnte bedroht sein. Der Lauf fiel ja nicht dem Sturm oder der Notlage zum Opfer, sondern der Vermeidung einer Kontroverse. Das dürfte zunächst die Profi-Läufer interessieren, die ihre Antrittsgelder trotzdem haben wollen.

Schon versuchen auch die anderen Läufe rund um den Globus zu profitieren. Marathon-Tourismus ist ein hartes Geschäft und auch ein lukratives. Philadelphia akzeptierte alle Läufer mit Startgenehmigung für New York, Dublin arrangierte einen zusätzlichen Park-Lauf. Die Organisatoren werden den Eindruck vermitteln: “New York hat euch nicht gewollt – bei uns seid ihr willkommen.”

Auf Facebook fordern zahlreiche Teilnehmer auch die Rückzahlung der Startgebühr. Nur: Das kann die NYRR gar nicht – dann wäre sie am Ende. Und auch Mary Wittenberg kann dies nicht anordnen, denn in ihrem Arbeitsvertrag dürfte sich ein Passus finden, der ihr Handeln gegen die Interessen der Organisation untersagt.

So bleibt nur der Klageweg. Im Paradies der Prozesse wird es davon reichlich geben. Sie werden sich hinziehen und Geld kosten. Ob die NYRR dieses Geld hat? Sie kann es sich nur vom Bürgermeister zurückholen – mit neuen Klagen. Doch bevor sie entschieden sind, könnte der „Mann mit dem Hammer“ kommen. Dieser, sagt der Marathon-Mythos, komme so ab Kilometer 30 und sorge dafür, dass Läufer sich fühlten, als liefen sie gegen eine Wand. Mancher gibt dann auf.

Uns lässt jener Typ mit dem Schlagwerkzeug an diesem Sonntag in Ruhe. Dabei wäre es logisch, schaute er auf einen Besuch vorbei. Ab dem Moment der Absage stellten wir schließlich unsere Flüssigkeitszufuhr maßgeblich um. Zum Beispiel in Richtung des fantastischen Blueberry-Sling der Rooftop-Bar des „Peninsula“. Und der Tisch beim Italiener „A Voce“ für den Samstag Abend war zwar zum Pasta-Essen vorgesehen – der Rotwein jedoch nicht.

Doch der Hammer-Mann bleibt weg.

Sicher, es tut weh. Ab Kilometer 34 auch richtig weh. Zu keinem Zeitpunkt aber erleben wir einen Moment, der das Weiterlaufen ernsthaft in Frage stellen würde. Auch wenn dieser Anstieg auf der Westseite des Parks hiermit öffentlich verflucht sei und bei nächster Gelegenheit ruhig einer Planierraupe zum Fraß vorgeworfen werden darf.

Die Zahl der Zuschauer hat auf unserer vierten Runde abgenommen, ebenso die Zahl der Läufer. Bei weitem nicht jeder will heute wirklich einen vollen Marathon laufen, und nicht jeder will dieses absurde Spektakel über Stunden verfolgen. Na gut, und die meisten Läufer waren auch deutlich schneller als wir. Die Polizeit hat inzwischen auch kapituliert: Sie verteilt Wasser aus großen Kanistern.

Zum vierten Mal laufen wir gegen 14 Uhr am Ziel vorbei und müssen noch ein Stück weiter. Denn die Runde hat ja 10, ein Marathon aber 42,195 Kilometer. Also noch mal ein Stück die Strecke entlang, bis die GPS-Uhr die Wende anzeigt. Zurücktraben, am abgesperrten Zielbereich sein – und feststellen, dass wir noch 100 Meter machen müssen. Noch mal hin, noch mal her.

Anschlagen.

Jubeln.

Wir haben unseren ersten Marathon in 5 Stunden 19 gelaufen – beim seltsamsten New York Marathon der Geschichte.

Nachtrag vom 16.11.12: Wie recht wir mit der Behauptung, der Marathon habe keine Lobby in der Stadt, hatten demonstriert das Boulevardblättchen “New York Post” in einem wütenden Kommentar. Dieser lässt allerdings außer Betrachtung, dass Aktivitäten wie Schulprogramme nicht unter “Charity” gelistet werden. Da es sich um eine Postille Rupert Murdochs handelt, dürfen wir dabei von Absicht ausgehen.


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