Immer mal wieder kommt eine Mobile App daher die das Denken verändert. Heute ist mir so eine begegnet. Ihr Name: Circa.
Circa ist nicht die beste Nachrichten-App aller Zeiten – aber sie ist eine, an der sich Medienhäuser ein Beispiel nehmen sollten. Denn ihre Macher haben offensichtlich mehr darüber nachgedacht, wie Nachrichten im digitalen Zeitalter beschaffen sein und serviert werden müssen, als die meisten Online-Redaktionen. Denn der Nachrichtenkonsum hat sich ja verändert: Wir besuchen heute immer seltener eine spezifische Seite, um uns tief uns ausführlich über den allgemeinen Stand zu informieren. Sicher, man schaut mal, was so auf Spiegel Online los ist. Doch häufig genug bekommt nur noch ein Drittel aller Besucher eines Nachrichtenangebots dessen Startseite zu sehen.
Stattdessen steigen wir direkt in bestimmte Bereiche ein oder aber – und das ist der immer wichtigere Weg – wir werden anderenorts auf einen bestimmten Artikel aufmerksam gemacht, zum Beispiel per E-Mail oder Social Media. Somit steigt die Zahl der Nachrichtenlieferanten insgesamt.
Interessiert uns ein Thema besonders, suchen wir nach weiteren Informationen. Hier kommt dann für gewöhnlich Google ins Spiel, vor allem Google News. Bei den Digitalirren wie mir auch andere Aggregatoren wie Rivva oder Techmeme.
In beiden Phasen aber stoßen wir auf die Kollision von redaktioneller Tagesarbeit und Realität. Die Zeiten sind eben vorbei, da der Nachrichtenstand eingefroren und auf Papier gedruckt werden konnte und selbst wenn dieses Papier erst einen Vierteltag später beim Empfänger eintrifft, so erhält dieser noch ein brauchbares Abbild der Welt. Heute geht vieles schneller. Ich kenne keine Redaktion, die intensiv darüber debattiert hat, was das für den täglichen Journalismus bedeutet. Wie muss das Schreiben von Artikeln sich ändern? Ab wann streicht man ein bereits veröffentlichtes Online-Stück komplett? Ab welcher Phase wird aktualisiert?
Sollte es eine solche Redaktion geben, würde ich mich sehr über Erfahrungsberichte freuen (gern auch als Gastbeitrag). Doch höre ich eben nur von einem Vorgehen, das von Redakteur zu Redakteur variiert weil es an Vorgaben mangelt.
Der Nachteil für den Leser: Er erreicht als Quereinsteiger Artikel, deren Aktualität schwer erkennt. Sicher, es gibt Zeitstempel. Doch ob ein vier, fünf, sechs Stunden alter Artikel noch die Lage ausreichend spiegelt ist oft völlig offen. Noch schwieriger wird es bei Tage oder Wochen alten Artikeln. Was hat sich seitdem verändert? Schwer nachvollziehbar.
Noch schwieriger wird es auf dem Handy. Die Mobile Apps von Nachrichtenangeboten sind mal besser layoutet, mal schlechter. Dabei teilt sich die Nutzerschaft aus meiner Beobachtung in zwei Gruppen: Ich kenne Menschen, die kein Tablet nutzen, weil ihnen das kleine Display des Telefons selbst bei längeren Texten keine Probleme bereitet. Bei mir ist es genau anders: Ich finde, vielleicht bedingt durch meine Sehschwäche, längere Texte auf dem iPhone anstrengend zu lesen.
Circa geht diese Herausforderungen mit einem sehr mutigen Konzept an. Eine Redaktion editiert und filetiert die Nachrichtenlage. Erscheint etwas wichtig, wird es in Häppchen verwandelt, jedes davon belegt eine iPhone-Seite. Wer will, kann sich als Fußnoten die Quellen anzeigen lassen, tippt er sie an, öffnet sich ein Browser-Fenster. Hier das Erklärbär-Video:
Diese Aufteilung ist im Prinzip nichts anderes als klassischer Nachrichtenagentur-Stil wie ihn jeder Volontär lernt: Das Wichtigste in den ersten Satz, das Zweitwichtigste in den zweiten… Begründet wird das gern (und ich weiß nicht, ob diese Anekdote wahr ist) mit dem Wilden Westen: Damals kappten Indianer angeblich Telegraphenleitungen, weshalb Nachrichten eine klare Struktur brauchten.
Diese Filettierung sorgt dafür, dass Nachrichtenverläufe sehr leicht aktualisiert werden können. Gleichzeitig macht es natürlich auch das Teilen via Social Media einfacher. Nun müssen nicht mehr einzelne Sätze kopiert oder getippt werden – sie stehen bereits kleinteilig zur Verfügung.
Und noch eine Funktion von Circa ist exzellent durchdacht. Der Nutzer kann sich benachrichtigen lassen, wenn sich die Nachrichtenlage bei einem bestimmten Thema verändert.
Das soll nicht heißen, dass Circa nun die Welt aufrollt. Derzeit gibt es auch noch ein paar deutliche Programmierfehler. Aber es ist endlich mal wieder ein neuer, mutiger Weg und einer, der nachvollziehbar versucht, Mobile Nachrichten neu zu definieren. Weshalb die Digital-Verantwortlichen in Medienhäusern fragen sollten, ob diese Herangehensweise nicht sinnvoller ist als das, was sie derzeit an Handy-Apps offerieren.
Kommentare
NeoPress wartet schon leider nicht 16. Oktober 2012 um 16:09
In meinungsfreien Ländern gäbe es Wikis mit Beschreibungen alternativer bzw modernerer News-Konzepte. Oder bei denen welche die Pressefreiheit schützt, welche aber lieber paybooks mit buchpreisbindung daraus machen.
Norran(?) in schweden oder Dänemark oä setzt bei Themen wohl viel auf Crowd, ist aber vielleicht weiter klassisch Print.
Das Print-Berichte nur ein platzbeschränktes fast-Food-Sandwich sind und online die richtigere vollwerthaftigere Version ist, war in Kommentaren auch schon thema glaube ich mich zu erinnern.
Neonews würde alle News nehmen und als crowdwiki mit Quellen und belegen verpassen. Wo es keine Quellen gibt, kann man per Touch als filter/zusammenfassung sehen und weiß damit, wo vielleicht die Lüge oder desinformation lauert.
Davon abgesehen gehen börsenmeldungen mir schon lange auf den Keks. Im Print macht man natürlich formulierte Sätze und ein paar herausgepickte Zahlen. Aber online hat man Tabellen oder Listen in allen gewâhlten währungen und alle Zahlen und Vergleich absolut und Prozent im Vergleich zum Vorjahr und Vorquartal und Konkurrenten. Im Print natürlich viel weniger aber wieso soll ich online Prozente und andere zahlen selber ausrechnen. Da die Zahlen als XML kämen (Data-Wiki) würden diese Tabellen automatisch erstellt und man kann sich auf wichtigere Dinge konzentrieren.
Das man online erklärungen und ausführliche und kompakte Versionen zb für im Auto als hörversion bekommt, sollte auch klar sein und war auch oft Thema.
Heise und andere legen oft Tests nach und bleiben dabei im Stil bzw messmethodik des sammeltests von vor x Ausgaben. Die updaten also im Print auch schon lange.
Templates für Geschäftsberichte wären auch nicht ehrenrührig. Bei m$ oder google die besten profitbringer und cashburnerabteilungen und ihre Chefs jedes quartal zu benennen ist genau so wie die Spieler mit den meisten und wenigsten gelaufenen Kilometern beim fußball immer zu Listen.
Wieso die Sortierung nach Wichtigkeit das updaten erleichtern soll, erschließt sich mir nicht. Wichtigkeit und Zeitverlauf sind zwei unterschiedliche Dimensionen. Korrekt ist allerdings, das man Geschichten weiter-erzâhlt haben will. Fußball oder ander Punkte-sammel-saison- oder auch Playoff-Sportarten machen das im Prinzip ja auch schon ewig. Änderungen und Korrekturen sind aber etwas anderes und wirken oft nur deshalb peinlich weil man die Urquelle nicht nennen wollte und eine Vermutung oder Gerücht als Fakt verpackt hatte. Siehe Sport. Die formulatorische korrektheit versandet und damit auch die Akzeptanz und seriösität beim Leser BTW Käufer.
Online werden Änderungen eh oft nicht oder ungern kommuniziert. Das sind alles printjournalisten in online-only-Redaktionen und die meisten online-Leser wissen vielleicht nicht mal das die Berichte bei print und online von zwei disjunkten Redaktionen stammen.
Print-Journalisten gehen online ist als wenn das fastfoodrestaurant-Team plötzlich ein mehrgängemenü für eine 100-köpfige hochzeitsgesellschaft oder Büffet organisieren soll. Ehern nicht, was man früher im diplom-journalismus-studiengang zur informativen volksverbesserung durch wahren qualitäts-leistungs-journalismus gelehrt bekommen hat.
Alles was nicht geheim ist, und der Redakteur in einer Mappe oder Akte zu einem Artikel separat aufbewahren sollte, würde jetzt online stehen und ggf aufklappbar oder (gewinne, mandate, verluste, wählerwanderungen, wahlbeteiligungen,…) zerlegbar/aufschlüsselbar per touch sein. Frag doch mal journalismusprofesdoren…
Davon abgesehen war wie viel nur von den Agenturen durchgeleitet ?
Da die meisten Projekte (Adobe, Post, newsstand,…) eher stagnieren und die monetarisierung kaum kommt oder erst in 2 Jahren wenn 10-20% SmarTVs die Hausfrau im Wohnzimmer werbewirksam informieren, lohnt der Aufwand kaum. Auch weil wohl keiner außer mir an die Crowd und ihre nutzbringende Organisierbarkeit glaubt.
Viele Startups sind vielleicht nur Steuersparmodelle. Also gibt es keine Motivation für NeoPress und leider kenne ich kein Land wo man sowas trotz der technischen trivialität und finanzierungsfreiheit problemfrei aufbauen darf.
Faldrian 16. Oktober 2012 um 16:24
Interessant, in diese Richtung hatte ich auch schon mal gedacht.
Eigentlich bräuchte man ein Portal, in dem Nachrichten in Timelines dargestellt werden, je nach Thema. Man könnte also ein Ereignis verfolgen und würde auf einer Timeline die verschiedenen Meldungen im Netz angezeigt bekommen und könnte damit schauen, wie es sich entwickelt hat.
Gerade bei verwirrenden komplizierten Themen in der Weltpolitik, aber auch bei irgendwelchen Berichten, bei denen Twitter die ersten ungenauen Angaben gibt und sich mit der Zeit alles aufklärt, wäre ein solcher Ansatz sehr spannend.
vera 18. Oktober 2012 um 10:39
Jetzt müsste nur noch jemand die passende Automatisierung bauen, die das alles direkt in einen Zeitstrahl überführt und – zumindest grob – grafisch darstellt.
NeoPress2 18. Oktober 2012 um 12:12
@vera: das bauen (programmieren) ist trivial für echte Informatiker.
Das nicht-abgemahnt-werden oder jahrelange Klagen bis zum Verfassungsgericht finanzieren ist das Problem.
Davon abgesehen muss man in manchen ländern sogenannte verlinkunks-vergeltung, Schutz-für-leistungs-abgabe, Link-Steuer, Content-Groschen, verwertungs-pauschale usw bezahlen und finanzieren.