Das „Handelsblatt“ ummantelt sich heute mit Werbung. Eigenwerbung. Das ist nicht verwerflich, denn es geht um etwas Großes. „First“ heißt die zweite Ipad-App aus der Verlagsgruppe. Die erste war eine schlecht gemachte E-Paper-App.
First wurde mit viel PR seit Monaten angekündigt. Auch das durchaus zurecht, schließlich könnte das Programm wichtige Erkenntnisse bei der Frage liefern, ob und für wieviel Geld sich journalistische Inhalte auf Tablet-Computern verkaufen lassen. Die Einführungsphase von First ist noch kostenlos – dank des Werbekunden Siemens. Ab 1.5. aber will das „Handelsblatt“ 11,99 Euro monatlich oder 119,99 Euro im Jahr verlangen.
Die gedruckte Eigenwerbung heute kommt mit viel Ego daher. „Das Wichtigste. Zuerst.“, brüllt es. Und: „Handelsblatt First, die erste personalisierbare Push-App für Entscheider.“
Nun gut. Es ist vielleicht die erste personalisierbare Push-App für Entscheider, wenn man die des „Wall Street Journal“ außer Acht lässt. Oder die von CNBC.
Also: Es ist vielleicht die erste deutsche personalisierbare Push-App für Entscheider.
Eines aber ist sicher: Es ist definitiv die erste personalisierbare „Push-App“ für Entscheider ohne großartige Personalisierung – und völlig ohne Push.
Also, es kann jetzt sein, dass ich irgendetwas übersehe. Ehrlich gesagt, habe ich das so wenig geglaubt, dass ich gerade mehrere kundige Menschen gebeten habe, dies zu bestätigen – weil es einfach unfassbar ist. Alle drei gaben mir Recht.
Die App fragt mich beim Erststart nicht, ob ich Ihr Push-Nachrichten gestatte. Ich kann solche auch nicht in den App-Einstellungen wählen. Und First taucht auch nicht bei den separaten Push-Einstellungen des Ipad auf. Nope, pusht nicht. Eigentlich hätte das schon wieder den Pinocchio des Tages für Chefredakteur Gabor Steingart verdient – aber das würde ja langsam langweilig.
Vielleicht hat den Machern jenes Anzeigenmotivs auf der Seite 1 einfach niemand erklärt, wie das so funktioniert mit dem Ipad. Vielleicht wissen es die Macher der App selbst nicht. Denn: Push-Benachrichtigungen sind heute so selbstverständlich wie ein zweiter Außenspiegel beim Auto. Wer richtig kundenfreundlich sein will, der bietet die Möglichkeit, Push-Nachrichten zu bestimmten Uhrzeiten auszuschalten (jetzt strunz ich mal – die Iphone-App von Indiskretion Ehrensache verfügt über diese Funktion).
Dazu die höchst dürftigen Personalisierungen. Tatsächlich kann ich nur entscheiden, was auf drei Anzeigefeldern erscheint – dort habe ich die Wahl zwischen Aktuelle Nachrichten, Branchennews und Videos. Die Branchen lassen sich dabei mit Wischen ändern – doch merkt sich die App nicht meine bevorzugte Branche. Wer zu IT will muss 7 mal wischen. Und dann kann der Nutzer noch 5 Börsenkurse personalisieren. Herzlich wenig – vor allem, weil er nicht zwischen unterschiedlichen Börsenplätzen wählen kann.
Angezeigt werden die Kurse in schöner Retro-Anzeigetafel-Optik. So wie in der Zeit, als noch alles toll und gut und einfach war, als am Frankfurter Flughafen die Abflugsänderungen neben der „Handelsblatt“-Werbung ratterten. Das sieht zwar hübsch aus – ist aber wenig leserfreundlich. Das Rot und Grün der Kursveränderungen ist vor einem schwarzen Hintergrund durch den Anzeigetafelsimulierungsknick schwer lesbar – wer von der Seite aus auf das Ipad blickt hat ohnehin verloren.
Das sind nicht die einzigen Stockfehler. Der nochmal extra erreichbare Kursteil ist höchst karg – da bieten andere längst weit mehr. Und die Videos wirken körniger als jede Amateuraufnahme, ihr Sound scheint aus einer Blechdose zu kommen. Mal abgesehen von der PR-Lastigkeit der dominanten Autofilmchen und der eher schwachen Qualität der Sprecher bei den Börsennews (die vermutlich von Reuters zugeliefert werden).
Suchfunktion? Archiv? Das erwarten Sie längst nicht mehr, oder? Gibt’s auch nicht.
Und dann ist die App bei Itunes unter „First“ abgelegt. Nein, nicht Handelsblatt First, einfach First. Das halte ich für einen Fehler. Natürlich lässt sich die App mit der Suche „Handelsblatt“ finden. Doch ist das allein nicht ausreichend als Absendermarke – viele Apps nutzen bekannte Namen zur Werbung. Da muss das kleine Logo dann reichen um zu signalisieren: Hier spricht das „HB“. Vor allem aber: Somit taucht die App bei den Ipad-Einstellungen unter F auf, nicht unter H. Ob sich jeder den Namen dieser App merkt?
Eigentlich aber sollte natürlich das redaktionelle Konzept im Mittelpunkt stehen. Künftig sollen die Leser zahlen. Warum? Weil die Ipad-App Inhalte bereitstellt, Stunden bevor sie auf der Webseite stehen und noch bevor sie gedruckt zu haben sind.
Selbst wenn man einen Moment glaubt, das wäre ein Kaufargument, so ist dies ohne eine Push-Funktion hinfällig – es sei denn, man starrt unentwegt auf die App.
Dort erhält der Leser dann auch noch absurderweise weniger als der Online-Leser später. Nehmen wir die aktuelle Geschichte über den Airbus A400M. Die Ipad-App liefert eine recht kurze Zusammenfassung in hastigem Agenturstil. Zeitmarke: 16.1. umd 14.28 Uhr. Wer mehr will, muss auf die Homepage der Zeitung gehen – dort gibt es die volle Story seit dem 17.1. um 9.07 Uhr. Komplett wird ignoriert, dass viele Menschen das Gefühl haben, auf dem Ipad längere Texte zu lesen als im Web. Hier bekommen sie kürzere – und das noch dazu in karger Optik.
Tatsächlich ändert die App ja nichts an dem grundlegenden Problem, dass eine Exklusivnachricht im Web gefühlte 3,7 Sekunden exklusiv ist. Denn glaubt das „Handelsblatt“ tatsächlich, die Redaktion der „Financial Times Deutschland“ oder von Spiegel Online sei so klamm, dass sie sich kein First-Abo leisten könne?
Was nun passiert ist geradzu absurd. Das „Handelsblatt“ verbreitet eine Exklusivnachricht über First. Spiegel Online berichtet über das Berichtete. Natürlich wird nicht verlinkt – deutsche Redaktionen mögen Qualitätsjournalismus nicht fördern. Der interessierte Leser aber geht vielleicht auf Handelsblatt.com weil er das Original lesen möchte. Dort findet er dann – nichts.
Das schnelle Verbreiten einer Nachricht hat den Zweck, diese zu besetzen. Das war schon immer so in der Geschichte der Medien. Das „Handelsblatt“ aber überlässt via First der Konkurrenz das Feld. Man darf das irre finden.
Hinzu kommt: Was das „Handelsblatt“ da so als exklusiv vermarktet hat gern auch mal einen gesenkten Exklusivitätsgrad, wie Meedia en detail am Beispiel analyisert. Was Meedia dabei übersieht: Die erwähnte Meldung über das Ein-Liter-Auto aus dem Hause Volkswagen ist sogar eine Exklusivmeldung der „Wirtschaftswoche“ – dem Schwesterblatt des „Handelsblatt“. Das „HB“ aber tut so, als sei es seine Story – da wird es heute in der Kasernenstraße wohl einen Anruf von Chefredakteur zu Chefredakteur geben.
Tatsächlich zeigt sich ein Leserbild, das heute so nicht mehr existiert. Es ist Zeitungsdenken: Der Monolith „Handelsblatt“ als einzige Informationsquelle ohne das Bedürfnis nach mehr. Dafür spricht auch die absolute Abschottung der App. Wer eine der exklusiven Nachrichten weiterreichen will, hat keine Chance. Es gibt keine Anbindung an E-Mail oder das Social Web. Nicht einmal jene Pseudo-Verlinkung, die einige Anbieter wählen: Der Leser mailt die Schlagzeile mit dem Hinweis, dass es sich um eine Ipad-App handelt und man diese brauche, um den Artikel zu lesen. Märkte sind Gespräche – das „Handelsblatt“ aber mag keinen Gesprächsstoff liefern.
Zum Vergleich das „Wall Street Journal“: Die App ist kostenlos, gewisse Inhalte aber sind nur für Print-Abonnenten zugänglich. Artikel können aber weitergemailt werden und erreichen den Adressaten mit einem App-freien Link zur Geschichte und einem werblichen Hinweis auf die Ipad-App (der aber vom Aussender auch gelöscht werden kann).
Das mit den Inhalten für Print-Abonnenten wird sich übrigens wohl ändern müssen. Wenn Apple ernst macht und eine Rabattierung oder gar Gratis-Bereitstellung für den existierenden Kundenstamm der Verlage verbietet. Und dies behaupten ja jüngste Gerüchte.
Zurück zu Handelsblatt First. Es stellt sich die Frage, warum jemand dafür extra zahlen soll. Tatsächlich bekommt er weniger Inhalte als auf der Web-Seite. Die App nutzt selbst Standard-Funktionen des Ipad nicht aus. Wer das „Handelsblatt“ auf das flache Brett gebracht hat, diese App sei 120 Euro im Jahr wert – rätselhaft. Das heißt nicht, dass es nicht Abos geben wird. Die „HB“-Klientel kann solche Kosten von der Steuer abziehen oder auf ihre Kostenstelle setzen. Ob letzteres passiert, bleibt abzuwarten. Denn das Ipad ist bisher vor allem in Branchen vertreten, die eher die „FTD“ bevorzugen: Medien und die Kreativindustrie. Und deren Entscheider werden sich fragen, ob sie nicht lieber ein Zeitungsabo ordern (oder gar keines) statt jedem Mitarbeiter ein Ipad-Abo zukommen zu lassen.
Nun kann es sein, dass dies alles noch kommt. Eine Aktualisierung mit Push und allem Drum und Dran. Nur: Heute ist der Tag, da das „Handelsblatt“ wirbt, heute ist der Tag für Pressemitteilungen und Wirbel. Doch was Deutschlands meistverkaufte Wirtschaftszeitung präsentiert ist bestenfalls gewöhnlich – gepaart mit dem Tammtamm sogar peinlich.
Der Online-Auftritt des „Handelsblatts“ wirbt heute übrigens mit einem Ipad-Layout für First. Es sieht besser aus als die App. Anscheinend aber hat es die Seite zum Abschmieren gebracht – außerhalb der Startseite geht fast nichts mehr. Was irgendwie bezeichnend ist.
(Disclosure: Ich habe von 1995 bis 2009 für das „Handelsblatt“ gearbeitet.)
Nachtrag vom 3.6.2013: Das Leiden hat knapp zwei Jahre gedauert. Nun hat das „Handelsblatt“ First abgeschaltet, wie Redakteur Georg Watzlawek auf Facebook schrieb:
Xyologic glaubt, dass die App nur rund 3.000 Downloads hatte, die 606 Bewertungen gaben ihr ein Durchschnittsranking von 3,5 der 5 möglichen iTunes-Sterne. Die großen Paid Content-Pläne sind dabei nie aufgegangen. Zu keinem Zeitpunkt gab es anscheinend genug Leser, um den Schalter umzulegen. So hielten Anzeigenkunden das Projekt über Wasser. Die Nutzer beschwerten sich immer wieder über technische Probleme. Zum Jahreswechsel 2012 war die App sogar über Wochen nicht funktionabel. Stattdessen versucht das „Handelsblatt“ nun mit der App „Live“ den Einstieg in Paid Content. Die Kritik dazu finden Sie hier.
Kommentare
Lars 17. Januar 2011 um 11:34
Was ich persönlich noch interessant finde: Man soll ab Mai bezahlen, damit man eine mit Werbung voll gestopfte Anwendung benutzen kann? Das mag ja bei Print auf Basis der Tradition noch funktionieren im digitalen Umfeld finde ich dies aber mehr als dreist, insbesondere weil die Werbeflächen dann eben nicht statisch wie bei Print sondern in der Regel dynamisch und maximal ablenkend sind.
Marc 17. Januar 2011 um 11:43
Mehrwert = Null oder sehe ich den nur nicht auf Anhieb?
Matthias 17. Januar 2011 um 12:00
Und wenn die App dann (wegen der ganzen Unzulänglichkeiten) keiner kaufen will, wird bestimmt wieder auf dem „Geburtsfehler“ der „Kostenlos-Mentalität“ im Internet rumgehackt…
Harte Schläge, warmer Regen | iWatz.de 18. Januar 2011 um 16:27
[…] muss es ja sein Nur Minuten später dann Knüwers eigene Antwort in einem länglichen Beitrag auf Indiskretion Ehrensache: Es ist definitiv die erste personalisierbare “Push-App” für Entscheider ohne großartige […]
e-book-news.de » Wissensvorsprung gegen Cash: “Handelsblatt First”-App informiert iPad-Leser exklusiv 18. Januar 2011 um 17:05
[…] Kritik an der App gab’s gleich zum Start von einem ehemaligen Handelsblatt-Reporter: auf „Indeskretion Ehrensache“ wirft Thomas Knüwer den Machern schwere handwerkliche Fehler vor. Darunter nicht funktionierende […]
SvenR 21. Januar 2011 um 11:50
OMFG!
Glauben Sie Gabor Steingart kein Wort 15. April 2011 um 6:39
[…] Steingart das Internet-Geschäft nicht? Könnte sein. Die Ipad-App des Handelsblatts bleibt angesichts des Wirbels um sie und der öffentlich geäußerten…Noch dazu ist Handelsblatt.com jüngst deutlich hinter FTD.de zurückgefallen. Es ist auch aus der […]
Netzwert Reloaded LXXb: Als gestern noch morgen, doch die Cebit schon nicht mehr die Cebit war 4. April 2012 um 17:18
[…] und -bereitschaft.” Fast deckungsgleich klangen ihre Nachfolger dann neun Jahre später beim Start der missratenen iPad App “Handelsblatt First”. In beiden Fällen hielt sich vielleicht nicht die Zahlungsfähigkeit, ganz sicher aber die […]
Gute Zeilen, Schlechte Zeilen: Verbotene Feindschaft am Kasernenwall (eine Seifenoper) 30. August 2012 um 13:49
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Handelsblatt Live: Geistig zurückgeblieben 5. März 2013 um 18:07
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