Vor einigen Jahren war ich Ressortleiter für unsere Wochenendbeilage „Weekend Journal“. Damals rieb ich mich regelmäßig mit jenen freien Autoren, die Literaturrezensionen zulieferten. Denn einerseits war mich nicht klar, warum eine Tageszeitung Besprechungen abdrucken sollte, von Büchern die seit Monaten auf dem Markt waren – andererseits tauchte auch hier das beliebte Thema „Sperrfrist“ auf: Buchkritiken sollten erst dann veröffentlicht werden, wenn es dem Verlag genehm war.
Dieses Thema nun wird heute besoners akut – dank eines bemerkenswerten Vorgangs aus dem Hause Rowohlt. Wie wirksam Werbung ist, zeigt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Hinter jeder Ausgabe von ihr, so suggerieren die Anzeigen, stecke ein kluger Kopf. Es ist eine wundervolle, intelligente Kampagne – und der Rowohlt-Verlag glaubt jedes Wort davon, scheint es.
Am 27.12. erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ ein langes Interview mit Daniel Kehlmann sowie ein Auszug aus seiner Kurzgeschichten-Sammlung „Ruhm“, die am 16. Januar erscheinen würde. Bemerkenswert: Dieser Buchauszug wird von der „FAZ“ vermarktet wie ein normaler Artikel, sprich: Er ist über die Pressedatenbank Genios käuflich erhältlich.
Zu Silvester schrieb dann die „Welt“ ein paar Zeilen zu „Ruhm“, ohne jedoch den Erscheinungstermin zu erwähnen. Am 3.1. ein weiterer „Welt“-Artikel, diesmal mit dem Erscheinungsdatum 16.1.
Am 5. Januar der „Spiegel“: Es ist ein langes, elogiges Portrait mit einigen lobenden Wort zum Werk. Allerdings fehlte – so weit sich das online nachvollziehen lässt – eines: der Erscheinungstag. Er wird nur in Zusammenhang gebracht mit Kehlmanns Geburtstag am 13. Januar, nicht aber mit dem tatsächlichen Erstverkaufsdatum, dem 16.
Am 10. Januar wieder die „Welt“ – ein Kehlmann-Interview. Einen Tag später die „FAS“ mit einer Besprechung. Am 13.: der „Tagesspiegel„.
Zu diesem Zeitpunkt hielten sich die Berichte in Grenzen, die Zeugnis hielten von Schlangen in Buchgeschäften, gebildet von enttäuschten Kunden, die den neuen Kehlmann erwerben wollten. Und folgt man der Argumentation der kommenden Zeilen, dann hätten sie da sein müssen. Doch nicht Leser von „FAZ“ oder „Tagesspiegel“ hätten dort stehen dürfen – nein, nur Leser des „Spiegel“.
Den nämlich verklagt der Rowohlt-Verlag, berichtet Branchenmagazin „Börsenblatt“:
„In der Buchbranche haben viele Buchhandlungen und Verlage darauf gewartet, wie Rowohlt die Verletzung der Veröffentlichungsfrist wohl handhaben würde – schließlich steht auch die Glaubwürdigkeit der Institution Erstverkaufstag auf dem Spiel. »Das sind wir auch unseren Kunden, den Buchhändlern, schuldig«, meint Kettmann, »die in einer unangenehmen Situation stecken, wenn der Kunde mit der Besprechung in der Hand in den Laden kommt, aber das Buch noch gar nicht zu haben ist.«“
Um solches zu verhindern, hatte Rowohlt auch mal schnell einen Knebelvertrag losgeschickt, wie die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ am 4. Januar berichtete:
„Bei manchen Büchern geht es für die Verlage um sehr, sehr viel Geld. Beim neuen Roman von Daniel Kehlmann zum Beispiel. Der heißt „Ruhm“ und erscheint am 16. Januar im Rowohlt-Verlag. Um zu demonstrieren, um wie viel Geld es dabei geht, verschickte der Verlag am 18. Dezember an die Redaktionen des Landes eine Vertraulichkeitserklärung. 250 000 Euro muss jede Redaktion zahlen, die eine Besprechung vor dem Erscheinungstag veröffentlicht. Dazu kommen „Schadensersatz- bzw. Schmerzensgeldforderungen“. „Der Spiegel“ veröffentlicht seine Besprechung trotzdem schon in der aktuellen Ausgabe. Mal sehen, was passiert.“
Nun ist die Frage, ob der „Spiegel“ diese Erklärung unterschrieben hat. Und ob sie vor, nach oder mit dem Rezensionsexemplar verschickt wurde. Und: Fand der Termin mit Kehlmann, auf dem das Portrait beruht, unter der Vorgabe statt, die Geschichte dürfe erst zum Erstverkaufstag erscheinen?
Der Kommunikationschefin des Rowohlt-Verlags habe ich gestern, 17.01 Uhr, eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen, bis jetzt, 11.23 am nächsten Tag, gibt es keine Rückmeldung.
Man darf gespannt sein, wie das ganze ausgehen wird. Sollte der „Spiegel“ jene Erklärung unterschrieben haben, würde das von bemerkenswert wenig Selbstbewusstsein zeugen. Denn was soll passieren, weigert man sich einen solchen Knebelvertrag zu unterzeichnen? Es gibt kein Rezensionsexemplar? Keinen Zugang zum Autor? Dann sollte man dem Verlag klarmachen, wie die Folgen aussehen. Kein Medium MUSS über ein Buch berichten. Eine Besprechung im „Spiegel“, sagt jemand, der die Szene gut kennt, bringt eine fünfstellige Zahl zusätzlich verkaufter Bücher. Es wird Zeit, dass Medien mehr Selbstbewusstsein zeigen und sich nicht von der PR vorschreiben lassen, wann sie über was zu berichten haben.
Nachtrag 13.04 Uhr: Gerade habe ich mit der zuständigen Kommunikatoren gesprochen. Der „Spiegel“ hat jenen Knebelvertrag nicht unterschrieben, nach dessen Aussendung aber angekündigt, das unterschriebene Papier zurückzusenden – war juristisch oft gleichzusetzen ist.
In Sachen „FAS“ und „Spiegel“ erklärte mir die Verlagssprecherin, das eine sei eben ein Vorabdruck, das andere eine Rezension. „FAS“-Leser wüssten, dass Bücher, aus denen es Vorabdrucke gibt, noch nicht erhältlich sind. „Spiegel“-Leser aber würden erwarten, dass ein besprochenes Buch im Handel erhältlich ist.
Mein Fazit: So denken vielleicht Buchverlage – aber mit Sicherheit nicht ihre Kunden.
Kommentare
Michael Finkenthei 5. Februar 2009 um 12:24
»Das sind wir auch unseren Kunden, den Buchhändlern, schuldig«, meint Kettmann, »die in einer unangenehmen Situation stecken, wenn der Kunde mit der Besprechung in der Hand in den Laden kommt, aber das Buch noch gar nicht zu haben ist.«\“
Drollig. Wie peinlich ist das wohl erst, wenn man irgendwo den 2. oder 3. Band einer Trilogie sieht, und die ersten Bände sind nicht lieferbar, ebenso wie alle anderen Werke des Autors. Und das passiert regelmäßig, in der Abteilung Science Fiction, die nicht nur deshalb nur noch aus einem schmalen Brett besteht, das zur Hälfte mit Werken aus dem Bereich \“Fantasy\“ aufgefüllt werden muss. Manches von Lem findet man noch, aber wer ist schon ein Philip K.Dick?
Vielleicht nicht jedermanns Genre, mag sein, aber eine weitere Begründung warum \“excuse me, sir, do you happen to work in – marketing?\“ die schlimmste Beleidigung ist, die man einem Ingenieur zufügen kann. Nicht mal satisfaktionsfähig.
Sanníe 5. Februar 2009 um 12:37
Das ist natürlich alles ganz albern, und ob man das mit Geld lösen kann, weiß ich nicht.
Aber ich finde es zum Kotzen, daß die Bücher in allen Zeitungen und Talkshows totgeredet werden, bevor ich / bevor irgendjemand sie lesen kann außer den Flitzpiepen aus dem Feuilleton.
Und es kann gut sein, daß es dem Verkauf schadet, denn gerade was \“Ruhm\“ betrifft, war ich schon übersättigt, als der Roman noch nicht einmal erschienen war.
Rainersacht 5. Februar 2009 um 13:30
Ein weiteres Beispiel für eine völlig verschobene Weltsicht von Vertriebs- und PR-Fuzzis. They never learn.
Michael Kallweitt 5. Februar 2009 um 17:32
Wie die FAZ berichtet, hat der Verlag inzwischen Klage eingereicht.
IloveSperrfristen 5. Februar 2009 um 18:04
\“Es wird Zeit, dass Medien mehr Selbstbewusstsein zeigen und sich nicht von der PR vorschreiben lassen, wann sie über was zu berichten haben.\“
Völlig richtig!
\“[…] dass ein besprochenes Buch im Handel erhältlich sind.\“
Neues Spiel:
Wer findet den Fehler?
hisdudeness 7. Februar 2009 um 11:32
Ich versteh die Kritik an den Sperrfristen, die hier geäußert wird, nicht. Die sind doch nicht da, um Journalisten zu ärgern, sondern um kundenfreundlich zu sein. Wenn ich z.B. eine Buchrezension lese oder im Radio höre, dann in die Buchhandlung meines Vertrauens gehe und das Buch noch gar nicht ausgeliefert ist, fühl ich mich doch verarscht. Das ist der einzige Sinn der Sperrfrist.
Marcuccio 7. Februar 2009 um 12:46
Kleine Korrektur: Der Kehlmann-Vorabdruck vom 27.12. fand nicht in der FAS statt (die erschien am 28.12.), sondern in der FAZ (\“Bilder und Zeiten\“). Insofern verwunderlich, dass die Rowohlt-Kommunikationschefin von \“FAS-Lesern\“ spricht, die angeblich Bescheid wüssten.
Tatsache ist, dass Rowohlt die FAS wegen der Vorabdruck-Lizenz der FAZ trotzdem und bestimmt nicht verklagt – wiewohl die FAS mit ihrer Kehlmann-Besprechung vom 11.1. natürlich zu früh dran war. So wie sie jeden Sonntag zu früh dran sein muss, wenn sie nicht zu spät sein will. Über dieses Sperrfristenspiel, in dem sich z.B. donnerstags auch noch die \“Zeit\“ positionieren muss, schrieb schon im Dezember Ekkehard Knörer im Perlentaucher: http://www.perlentaucher.de/artikel/5129.html
Insgesamt zeigt sich, wie fadenscheinig alle Argumente sind. Und dass der Buchhandel Probleme hat mit Leuten, die ein Buch nachfragen, bevor es erhältlich oder im Laden ist, wäre mir neu. Vorbestellungen, \“Wir rufen Sie an\“, \“Wir schicken es Ihnen nach Hause\“ – das alles ist ja sonst alles kein Problem.
hisdudeness 7. Februar 2009 um 21:19
Das stellt sehr wohl ein Problem dar: Die meisten haben halt einfach keine Lust mehrere Wochen auf ein Buch zu warten, sondern kaufen sich einfach ein anderes.
Was ist denn deiner Meinung nach der Grund für die Sperrfrist, Marcuccio?
Marcuccio 8. Februar 2009 um 1:35
@hisdudeness: Mehrere Wochen? Ich glaub bei Kehlmann ging es um 10 Tage. Die Sperrfrist haben die Verlage letztlich selbst nötig gemacht – mit Vorabexemplar-Beschickung, intensiver Countdown-PR, Stilisierung des Book Release Day usw. will man das große Medienfeuerwerk, und wundert sich am Ende, dass Silvester ist. Die ersten böllern immer schon nachmittags.
Im übrigen verstehen die Sperrfristenbrecher ihren Frühstart ja durchaus als Service (\“Bei uns immer 10 Minuten früher informiert\“) – und weisen normalerweise ausdrücklich drauf hin, ab wann das Buch käuflich zu erwerben ist. Kein Grund also, als Leser nervös zu werden…
hisdudeness 8. Februar 2009 um 7:36
Also mal der Reihe nach: Vorabexemplare werden verschickt, damit beispielsweise monatlich erscheinende Magazine, die ja einen ca. dreimonatigen Vorlauf haben, die Bücher zur Auslieferung besprechen können. Book-Release-Days gibt es nur bei den wenigsten Verlagen (siehe Carlsen und Harry Potter).
Die genannten Kritikpunkte (die zudem meine Frage geschickt umschiffen) treffen nur auf die absoluten Branchenriesen zu.
Ein Beispiel: Ein kleiner bis mittlerer Verlag veröffentlicht einen Roman. Der Verlag kann sich keine großes Marketing leisten und muss über Rezensionen auf den Roman aufmerksam machen. Einerseits will man die potenziellen Kunden nicht vergraulen, indem das Buch vor der Sperrfrist besprochen wird, andererseits muss man Besprechungsexemplare früh verschicken, damit sie in Magazinen besprochen werden und der Leser weiß, dass der Roman jetzt erhältlich ist. Ich versteh jetzt immer noch nicht, was daran so schlimm ist, ein Buch dann zu rezensieren, wenn man es auch kaufen kann.
Marcuccio 8. Februar 2009 um 13:43
Richtig schlimm muss es mittlerweile wohl für die Verlage sein, wenn Medien Bücher nicht zur Auslieferung besprechen, sondern (Frechheit!) erst dann, wenn man sie schon Wochen (oder Monate!) kaufen kann. Denn dann liegen sie, so sie nicht Bestseller sind, womöglich schon gar nicht mehr in den Buchläden, die Schnelldreher-Buchketten haben sie längst rausgeräumt. Es ist letztlich auch der – nicht mehr inhabergeführte – verbreitende Buchhandel, der diesen absurden Termindruck erzeugt – als ob Bücher verderbliche Waren wären.
Im übrigen bin ich auch nicht gegen die Sperrfrist an sich, sie ist eine der selbstverständlichen Pflichten, die ein Verlag mit den Nutzungsrechten für ein Werk erwirbt. Nur der so beliebige Umgang mit der Sperrfrist!
Auffällig an der Causa Rowohlt vs. Spiegel ist doch das sonderbare Exempel, das hier statuiert wird. Hier wird Sperrfristenbrechen verklagt (Spiegel)- da (FAS, Tagesspiegel) nicht.
Wenn du der Feigenblatt-Argumentation beipflichtest, wonach es bei dieser Klage um enttäuschte Leser geht (und nicht um die Bestandssicherung der für die Verlage so lukrativen, weil ihre Medienpartner eben – noch – exklusiven Vorabdruck-Lizenzen) dann beglückwünsche ich dich zu deinem Idealismus.
fred 9. Februar 2009 um 11:03
@Rainersacht
bin absolut der gleichen Meinung!
anonym 9. Februar 2009 um 17:08
Komisch, ich lese seit Jahrzehnten Bücher, habe auch schon etliche Rezensionen gelesen, auch im \“Spiegel\“ schon; noch niemals in meinem Leben bin ich auf die Idee gekommen, daß das rezensierte Buch unmittelbar in diesem Augenblick im Laden erhältlich sein muß! In welch seltsamer Welt manche Leute leben.
hisdudeness 10. Februar 2009 um 0:26
@Marcuccio: Mit dem Buchhandel kann ich dir nur beipflichten – da hat eine absolute Kommerzialisierung stattgefunden. Den Verlagen ist es im Allgemeinen aber recht wurscht, ob die Bücher später besprochen werden, Hauptsache sie werden überhaupt besprochen.
@anonym: Deine Anmerkung find ich äußerst befremdlich, aber meistens wird die Sperrfrist ja auch eingehalten und du bist deshalb noch nie umsonst in ne Buchhandlung gelaufen.
Andere Frage: Habt Ihr schon mal ne Filmkritik zu einem Kinofilm gelesen, der erst vier Wochen später anläuft?
rezensent 11. Februar 2009 um 5:43
\“Den Verlagen ist es im Allgemeinen aber recht wurscht, ob die Bücher später besprochen werden, Hauptsache sie werden überhaupt besprochen.\“
Ich stimme dem Kommentator über mir völlig zu und sehe die Sache zumindest bei Sachbüchern anders als Thomas Knüwer: Zumindest Sachbücher können gut und gerne noch Monate nach dem Erscheinen besprochen werden. Wenn ich eine exzellente, klug kritisierende Besprechung eines Sachbuchs lese, dann ist es mir schnurz, wenn sie ein paar Monate später erscheint. Was ist denn schon dabei?
Wenn die Aktualität des Buches eine derart schnelle Verfallsrate hat, dass es unter dieser Verzögerung erheblich leidet, dann hätte das Thema eh nie in Buchform abgehandelt werden sollen.
turnops 11. Februar 2009 um 11:39
Tatsächlich ist die Angelegenheit sogar noch etwas seltsamer verlaufen. Am 23.12 nachmittags kündigte der RSS-Feed von faz.net eine Vorveröffentlichung aus \“Ruhm\“ an, die auch tatsächlich auf faz.net zu lesen war. Am Abend war dieser Artikel verschwunden.
Es dauerte bis zum 27.12, bis der Artikel wieder auf der Faz-Website auftauchte – allerdings schwer zu finden und nicht besonders angekündigt.
rezensent 11. Februar 2009 um 23:21
Kann nicht einmal der ganze Spam-Schrott in den Kommentaren dort oben rechts abgeblockt werden! Das gibt es doch gar nicht. In keinem anderen Blog dringt das durch!
Thomas Knüwer 11. Februar 2009 um 23:51
Der Spam-Schrott wird regelmäßig gelöscht und wird sich hoffentlich mittelfristig erledigt haben.
Insider 13. Februar 2009 um 1:16
Sperrfristen für Rezensionen werden im Spiele-Journalismus auch \“Embargos\“ genannt. Hier ist es aber noch schlimmer: Online-Medien werden gegenüber der Printpresse meist benachteiligt. Dummerweise haben die meisten verlage nicht die Traute, sich dagegen zu wehren, weil sie am Tropf der Publisher hängen.