Skip to main content

Dieser Tage bin ich viel auf Reisen, weshalb es hier etwas ruhiger ist als gewöhnlich. Gestern war ich in Berlin, heute in London – und beide Tage brachten mir Aha-Erlebnisse in Sachen Medien.

Das eine drehte sich dabei um die Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem im journalistischen Berufsstand, das andere Mal um die Begeisterung, die ein schlichtes Online Videoformat auslösen kann.

Gibt’s hier nen Bier umsonst? Das war meine erste Vermutung, als ich heute aus dem großen Konferenzraum der Programmiererkonferenz Fowa in London kam. Hundert von Menschen standen Schlange, und diese Schlange schlängelte sich sauber aufgereiht – we’re british 2.0 – um die Stände des Ausstellungsbereich. Ich folgte also dem Verlauf und landete – am Eingang des Konferenzraums.

Dann war klar: Die waren alle hier, um später reinzukommen. Denn eine Stunde nach diesem Erlebnis würde dort die nächste Folge der Online-Video-Show Diggnation aufgezeichnet. Wer Diggnation nicht kennt: Digg ist eine Plattform, auf der die Nutzer Nachrichten, Links und Videos vorschlagen und über andere Vorschläge abstimmen. Digg-Mitgründer Kevin Rose und sein Freund und TV-Moderator und Video-Podcaster Alex Albrecht sitzen dann einmal in der Woche mit wechselnden Bieren oder Weinen auf einer Couch und kommentieren die Storys mit den meisten Stimmen.

Jede dieser Shows wird so um die 250.000 mal geschaut. Eine Viertelmillion Zuschauer – das würde manchen deutschen Spartensender freuen. Erst recht, bei dem überschaubaren Aufwand, den Diggnation treibt: Auch in London – die Show wurde live übertragen – bestand die Ausrüstung aus einer festen Kamera mit Stativ, einer kleineren Handkamera, einem Laptop für die Regie, zwei Laptops für die Moderatoren, einer Couch und viel Bier.

Am Nachmittag hatte ich mich mit Kevin Rose getroffen, zum zweiten Mal nach meinem San-Francisco-Besuch im Februar. Rose ist ein sehr angenehmer Gesprächspartner, weil sich die Summe seiner von PR-Leuten eingetrichterter Floskeln auf einem Minimum bewegt, er auf Fragen eingeht und wenn er keine Antwort auf eine Frage weiß, dass ganz klar sagt.

Ich bin mir nicht sicher, ob er mit dem Star-Status spielt, oder ob er das wirklich für so normal hält, wie er das darstellt. Auf meine Frage, wie die Idee entstanden sei, nicht nur Diggnation vor Publikum zu senden, sondern dass auch mit anschließenden Treffen der Fans mit ihm und Albrecht zu verbinden, meinte er:

„Das war keine Strategie, oder so. Wir haben einfach gedacht, wir probieren das mal. Und dann kamen ein Haufen Leute?“

Und was heißt ein Haufen? „Ein paar tausend.“

So war es auch heute abend. Ich habe mal geschätzt, dass mindestens 2000 Leute im Saal waren, jeder Stuhl war besetzt, in den Gängen saßen Besucher auf dem Boden. Ich unterhielt mich mit Adrian, einem Web-Programmierer, der mit zwei Freundinnen bis aus Leicester angereist war. „Diggnation ist einfach anders“, meinte er. „Es ist keine steife Nachrichtensendung. Und auf Digg werde ich auf Geschichten aufmerksam, die ich sonst nirgendwo finde.“ So sieht es auch Jay aus London: „Die Show strahlt einfach etwas besonderes aus. Sie ist authentisch. Geekig.“

Auch ich schaue gelegentlich Diggnation. Aber wie sehr sie ein Phänomen geworden ist, das hatte ich unterschätzt. In der Halle herrschte eine Stimmung wie bei einer Studentenwohnheimparty. Rose und Albrecht sind auf der Bühne gut, verdammt gut. Sie haben Präsenz ohne aufgesetzt zu wirken, es wirkt nah, spontan, ist oft witzig – und wenn nicht, merken die beiden es selbst und machen sich über sich selbst lustig.

Und hier die Aufzeichnung der Show:

Hinterher dann Meetup – faktisch eine Party mit Stars. Und die waren umlagert von hunderten von Leuten, plauderten locker, ließen sich fotografieren. Diese Gespräche seien extrem wertvoll, erzählte mir Rose. Schon mehrere Ideen seien aus solchen Treffen entstanden. Schon bald werde wieder ein größeres Feature umgesetzt, dass auf diese Art entstand. „Man muss auf seine Kunden hören“, sagte Rose.

Wieder einmal zeigt sich: Für ein erfolgreiches Online-Video-Format braucht es keine Top-Technik und ausgefeilte Schnitte – das gibt es alles im Fernsehen. Es braucht Inhalte und leidenschaftliche Menschen vor der Kamera. Vielleicht ist das der Grund, warum sich klassische Medien so schwer damit tun, eigene Formate zu etablieren.

Ach, übrigens: Digg hat feste Sponsoren, die Show in London wurde zusätzlich präsentiert von Virgin. Allerdings gibt es keine Werbespot, die Sponsoren werden von Rose und Albrecht genannt und gelobt. Mehr Product Placement, denn klassische Werbung, also. „Wenn ein Produkt uns aber nicht gefällt, würden wir dafür auch nicht werben“, sagt Rose. Und: Die Show ist „sehr profitabel“.

Mein zweites Aha-Erlebnis spielt in einem ganz anderen Bereich. Gestern sprach ich vor Journalisten aus Afrika und Asien, die beim International Institute for Journalism einen Kurs in Sachen Multimedia-Reporting absolvieren. Leider blieb viel zu wenig Zeit, um mit ihnen über die Arbeit in ihrer Heimat zu sprechen.

Eines aber fand ich bemerkenswert: ihre Aufgeschlossenheit. Und das obwohl dieser Kurs über das hinaus geht, was ich aus deutschen Journalistenschulen höre. Denn neben dem, was heute Standard ist bei solchen Kursen (Blogs, Video- und Audioaufnahme und -schnitt) sind eben auch Twitter, Qik & Co. Thema. Ein Kurs also auf der Höhe der Zeit. Damit erhalten diese Kollegen aus der Ferne in Deutschland mehr Wissen vermittelt als die meisten deutschen Volontäre.


Kommentare


Weltenweiser 13. Oktober 2008 um 10:42

Spannender Bericht. Zu gutem Online-Inhalt gehört für mich auch die Qualität der Bilder. Eine kurze Überarbeitung hätte doch schon erhebliche Verbesserungen erzielt. Gute Texte verdienen auch gute Bilder.

Antworten

7an 13. Oktober 2008 um 13:23

Naja. Diese Digg-Dinger sind halt Service-Videos. Ehrensenf in anspruchsvoll und Ernst. Ganz nett für Leute, die es interessiert und natürlich ist es interessant, wie die gefallenen Zugangsbarrieren und das Netz den beiden Machern und ihrem Team ihre Show erst ermöglichen. Aber es nicht wirklich etwas besonderes und nicht wirklich in journalistischer Hinsicht spannend. Außer vielleicht für Service-Portale, aber von dem Mist gibt es eh schon genug.

Antworten

Achim 17. Oktober 2008 um 15:14

Ein sehr guter Kommentar zur Diggnation-Party in London von letzter Woche. Ich war ebenfalls (zum ersten Mal) anwesend und sehr angetan. Die Show war extrem witzig, spontan und nicht aufgesetzt. Im deutschen TV findet man eine derlei coole Show nicht. Wer mag, findet unter meiner URL weitere Eindrücke, Bilder und Kommentare zum Digg MeetUp in London:

http://www.rechtsanwalt.am/11%20Strange%20Impressions%20By%20Someone%20Who%20Set%20Out%20To%20Celebrate%20The%20First%20Diggnation%20Party%20Of%20His%20Life%20In%20London.a.432.html

Antworten

Web-TV: Die Rückkehr der Seifenoper 9. Juli 2010 um 11:01

[…] Bis zu einer Viertelmillion Menschen wollen das sehen und wenn Kevin Rose und Alex Albrecht Live-Shows machen kommen Tausende. Leider werden sich die beiden ab Jahresende nur noch auf gelegentliche Live-Sendungen […]

Antworten

Du hast eine Frage oder eine Meinung zum Artikel? Teile sie mit uns!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*
*