Haben Sie den Tag heute genossen? Ich hoffe doch. Könnte schließlich ihr letzter sein. Jeder Mensch sollte von Zeit zu Zeit seinen eigenen Wertekanon hinterfragen, die Grundlagen seines Handelns, die persönliche Ethik. Sicher, das ist schwer, kostet Zeit und Denkarbeit. Und das im Tagesgeschäft unterzubringen – schwer, schwer, schwer.
Doch das Beispiel Wolfgang Schäuble zeigt, wie dringend nötig es ist. Der Bundesinnenminister hinterfragt weder sich noch den Gang der Welt. Für ihn ist die Welt so Schwarz-Weiß, wie man es sonst nur aus Märchen kennt.
Und deshalb werden seine Äußerungen immer bizarrer. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ schwadronierte er nun vom Atombombenattentat:
„Viele Fachleute sind inzwischen überzeugt, dass es nur noch darum geht, wann solch ein Anschlag kommt, nicht mehr, ob.“
Das ist zwar richtig. Aber es ist überhaupt nicht neu. Übrigens sind viele Fachleute auch überzeugt, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis das nächste Atomkraftwerk von sich aus in die Luft geht. Und viele Fachleute sind sich auch sicher, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis durch die schmelzenden Polkappen Holland im Meer versinkt.
Nun wäre es ja noch interessant gewesen zu erfahren, welchen Fachleuten unser Innenminister denn wohl vertraut. Aber so viel Einblick würde sicher die Geheimhaltung sprengen. Oder es würde vielleicht ans Tageslicht bringen, dass seine Fachleute ebenso problematisch zu beurteilen sind wie die Autoren der Bücher, die Herr Schäuble empfiehlt.
So war am 9.8.in der „Zeit“ ein Artikel von Gunter Hofmann zu lesen, dem langjährigen Hauptstadtkorrespondenten des Blattes. Unter dem Titel „Schäubles Nachtlektüre“ beschäftigte sich Hofmann mit einer Literaturempfehlung des Innenministers. Der hatte im Gespräch mit der „Zeit“ zuvor gesagt:
„Lesen Sie einmal das Buch Selbstbehauptung des Rechtsstaats von Otto Depenheuer, und verschaffen Sie sich einen aktuellen Stand zur Diskussion.“
Hofmann tat, wie ihm geraten. Und schrieb dann:
„In eine geradezu paranoid anmutende, extrem hermetische Gedankenwelt sieht man sich versetzt von dem Autor, einem Juraprofessor aus Köln, Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik.
Highnoon ist nichts dagegen. Jener Zusammenprall der Kulturen, der Samuel Huntington zufolge droht, er findet aus Sicht des Autors längst statt. Mitten im »Zeitalter des Terrorismus« befänden wir uns, seien mit der »Realität eines weltweiten Bürgerkriegs konfrontiert«…
Wenn der Rechtsstaat selbst auf dem Spiel steht, gibt es keine »Grenzen«, lautet die Kurzfassung der Antwort Depenheuers auf die Frage, die Schäuble nicht stellt…
So vollkommen dichotomisch ist dieses Weltbild, dass nur noch Freund oder Feind übrig bleiben: Hier der Westen, dort der islamische Terror…
»Verfassungspatriotisch gestimmte Bürger allein«, die den Staat im Konfliktfall »im Stich lassen«, hülfen nicht weiter, argumentiert Depenheuer. Man muss den Staat auf Krieg umrüsten. Die Feinde kommen nicht mehr von außen, sie kommen von innen. Der harmlose Nachbar von nebenan kann es sein. Alles potenzielle Schläfer, alles Verdächtige…
Einfach geht es in dieser Denkhöhle zu, und meist gibt es alles nur im Singular. Den Feind. Die Ausnahme. Das Opfer. Den Westen. Den Terror.
Die Herausforderung. Fast nichts hat einen Namen, nichts ein Gesicht.
»Die Erwartung einer iranischen Atombombe, die Vorstellung von Massenvernichtungswaffen in der Hand von terroristischen Islamisten zusammen mit demographischen Entwicklungen machen den Ausgang in diesem ersten clash of civilisations nicht prognostizierbar.«…
Zurückversetzt sieht man sich bei solcher Lektüre in jene Zeiten, als die Bundesrepublik sich noch nicht entschlackt hatte von den Spuren der autoritären Vergangenheit, von der Verachtung des parlamentarischen »Palavers« und der deliberativen Demokratie. Damals verabschiedete sie sich auch von einem überhöhten Staatsbegriff und lernte zu schätzen, dass die Hüter der Verfassung nicht an der Spitze der Exekutive, sondern gottlob in Karlsruhe sitzen…
Aber warum empfiehlt Wolfgang Schäuble, den man als leidenschaftlichen »repräsentativen Parlamentarier« und diskursiven Verteidiger der Prozess-Politik kennt, ein solches rechtsphilosophisch drapiertes Brevier für den Endkampf zu lesen?“
Interessant ist aber noch etwas aus Hofmanns Artikel, betrachtet man die ohne Anlass geführte Diskussion unseres Verteidigungsministers Jung zum Thema „Abschuss entführter Linienmaschinen“:
„Wie man den »weltweiten Bürgerkrieg« garantiert verliert, illustriert aus seiner Sicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das am 15. Februar 2006 das geplante Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig erklärte. In Paragraf 14 enthielt es die Ermächtigung, ein Flugzeug abzuschießen, »wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie (die Einwirkung mit Waffengewalt, Anm. d. Red.) das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist«.“
Aber warum sollen wir uns solche Gedanken auch machen. Sterben werden wir ohnehin, wenn die Bombe fällt. Also lernen wir sie doch zu lieben, rät Wolfgang Seltsam:
„Es hat keinen Zweck, dass wir uns die verbleibende Zeit auch noch verderben, weil wir uns vorher schon in eine Weltuntergangsstimmung versetzen.“
Eben bleiben wir gelassen, genießen wir die Zeit. Bis dann unser Innenminister in zwei, drei Wochen wieder mit der „FAS“ spricht. Eine Frage der Zeit sei es, wird er dann verkünden, bis Terroristen einen Anschlag mit biologischen oder chemischen Waffen verübten. Vielen Experten sei klar, dass es so kommen werde.
Ebenfalls gestern in der „FAS“ gab es übrigens auch noch ein Stück von jemand, der tiefer denkt. Er heißt Sascha Lehnartz und hat einen wirklich lesenswerten Artikel unter der Überschrift: „Die Datenspähter und das Unbehagen“ geschrieben, der hiermit zur Lektüre empfohlen sei – es gibt ihn sogar online.
Nachtrag: Bei Libri gibt es einen bemerkenswerten Fehler. Denn ausgerechnet bei diesem Buch ist ein falsches Cover eingeklinkt:
Kommentare
Problembär 17. September 2007 um 18:01
Herzlichen Dank fürs Aufzeigen!
Gruß, Problembär
hANNES wURST 17. September 2007 um 18:16
Autsch, wenn es auch ansonsten gegen Ihre Darstellung nichts einzuwenden gibt (liegt an der intelligenten Textvorlage), finde ich, dass Sie in Sachen Schäuble – der wie Dr. Seltsam querschnittsgelähmt ist, jedenfalls bis er sich \“Mein Führer, ich kann wieder gehen!\“ rufend aus dem Rollstuhl erhebt – einen Ton anschlagen der auf einer Seite, die von der Verlagsgruppe Handelsblatt vermarktet wird, nicht mehr vertretbar ist. Dieses Gepoltere gehört auf Ihre private Homepage.
Adhominem 17. September 2007 um 18:20
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir alle tot sein werden. Alle, die diesen Artikel lesen. Und die, die ihn nie gelesen haben. Alle. Ausnahmslos. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Lukas 17. September 2007 um 18:35
Mich regt Schäubles \“Carpe diem\“ wirklich auf: Der Mann, der seit Monaten so tut, als wolle er nur zu unserer Sicherheit unsere Menschenrechte einschränken, lehnt sich plötzlich völlig schicksalsergeben zurück, anstatt mal wirklich für unsere Sicherheit zu sorgen.
Christian 17. September 2007 um 18:43
Ich glaube, im Original stand etwas mit nuklearem Material und nichts von einer Atombombe. Was an Schäubles Hinweis jenseits der fehlenden Quellen angesichts der Geschichte mit Litwinenko und den ganzen Dokus über Ost-AKWs und dem Zustand der Ost-Armeen in den 90er Jahren so bizarr sein soll, verstehe ich bei allem Verständnis für Zuspitzung einfach nicht.
Detlef Borchers 17. September 2007 um 19:27
Ich weiß nicht, ob das Stück von Sascha Lehnartz soviel besser ist, da es im Grunde nur für eine \“ehrlichere\“ Diskussion wirbt, die dem Bürger nicht den Schwachsinn erzählt, der Kernbereich seiner privaten Lebensführung werde geschützt. Der Schluss mit Hinweis auf eine antiquierte Demo ist jedenfalls waschechte Schäuble-Denke.
BrainBomb 17. September 2007 um 20:14
\“Nach den vorläufigen Ergebnissen wurden im ersten Halbjahr 2006 in Deutschland 2.263 Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr getötet. …\“ ( http://www.heidiwright.de/servlet/PB/menu/1685827/index.html ) Das macht in 10 Jahren 22000 Tote. Jeden Monat haben wir auf deutschen Straßen knapp 500 Tote. Wieviel Tote könnte man vermeiden durch Einführung des Tempolimits? Vielleicht 500 im Jahr? Das macht in 10 Jahren 5000 Tote.
2.749 Menschen wurden bei dem Anschlag auf das World-Trade-Center getötet. Ein solcher Anschlag ist nach dem 11. September 2001 wegen erhöhter Sicherheitsmaßnahmen unwahrscheinlicher geworden. Trotzdem. Gäbe es diesen schlimmsten anzunehmenden Terrorgau bei uns in den nächsten 3 Jahren, so wären das 2.749 Menschen in 10 Jahren. Wahrscheinlicher ist ein Terroranschlag folgender Art bei uns ( http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,426226,00.html ). Maximale Anzahl Toter bei den aufgeführten Terroranschlägen 330 (Nordossetien), Verletzte 700 (London). Ein Terroranschlag mit einer schmutzigen Bombe mit Nuklearmaterial wird sich irgendwo zwischen diesen Größenordnungen bewegen.
Damit kann man das Risiko für sich selbst konservativ abschätzen. Es ist wesentlich geringer, als im Straßenverkehr umzukommen. Es zeigt auch, dass die \“Auto\“-Parteien mit verschiedenen Meßlatten messen. Tempo-Limit lehnt man grundsätzlich ab, das \“Restrisiko\“ sei vertretbar, aber Grundgesetzänderung mit Einschränkung von Grundrechten wegen Terroranschlägen befürwortet man stark und macht dafür sogar Propaganda in der Art totlitärer Regime (z.B. Cleverness der Terroristen hochlügen oder von einem \“Anschlag ungeahntem Ausmaßes\“ phantasieren, obwohl die Terroristen technich gar nicht in der Lage waren, die Wasserstoffperoxyd-Bombe hochgehen zu lassen, wie Chemiker sagen).
Ein nüchterner Vergleich von Todeszahlen zeigt also, dass Herr Schäuble trotz seiner Anstrengungen es nicht schaffen dürfte, die Verhältnismäßigkeit seiner Maßnahmen gegenüber dem Verfassungsgericht zu begründen. Natürlich kann man sich immer \“monströsere\“ Anschläge ausdenken, die aber auch immer \“unwahrscheinlicher\“ werden.
Man sollte dazu übergehen (Politik und Medien), einen möglichen Terroranschlag wie ein schweres Zugunglück betrachten (z.B. Enschede 101 Tote). Wenn es passiert, nimmt die Öffentlichkeit großen Anteil. Aber danach geht das Leben weiter. Keinesfalls wäre der Staat in seinen Grundlagen gefärdert.
Solche Vergleiche und \“Beruhigungen\“ stünden Herrn Schäuble gut an!
Robert 17. September 2007 um 20:53
@BrainBomb
danke für Ihre erhellende Darstellung! (KEINE IRONIE!)
vollkommen d\’accord !
Robert 17. September 2007 um 20:55
achja nochwas…
@hannes wurst:
ich empfinde den vergleich mit dr.seltsam gar nicht weit hergeholt und absolut passend…
Tim 18. September 2007 um 11:12
@BrainBomb: Generell ist die Argumentation richtig, aber den Effekt eines Tempolimits überschätzt du dramatisch.
Nur 12 Prozent der Todesopfer im Straßenverkehr resultieren aus Autobahn-Unfällen (laut Stat. Bundesamt, 2005). Von den rund 600 Todesopfern ließe sich nur ein sehr kleiner Anteil durch ein generelles Tempolimit verhindern. Die meisten Autobahnabschnitte (gerade die gefährlichen) sind ohnehin schon beschränkt, außerdem sind bei tödlichen Unfällen häufig LKW involviert, die von der Änderung nicht betroffen wären. Also statt 500 würde ich realistischerweise eher von maximal 20 bis 30 Todesopfern ausgehen, die durch ein Tempolimit bestenfalls verhindert werden könnten. Noch nicht einkalkuliert ist dabei die daraus möglicherweise resultierende teilweise Verlagerung des Autobahnverkehrs auf Landstraßen, auf denen das Risiko eines tödlichen Unfalls um ein Vielfaches höher ist.
XiongShui 18. September 2007 um 11:35
Man sollte den Troll nicht füttern:
http://de.wikipedia.org/wiki/Hanswurst
Erik 18. September 2007 um 12:00
\“Zwei doofe ein Gedanke\“.
Hatte auch schon gedacht, dass die Worte des Schäuble ein Superargument für die sofortige Abschaltung aller AKWs wäre.
BrainBomb 18. September 2007 um 12:36
@Tim: Nach dieser Quelle (VCD zitiert Umweltbundesamt) (http://www.vcd.org/position_tempolimit.pdf) gab es 2005 226 \“tötliche Geschwindigkeitsunfälle … auf unlimitierter Autobahn\“. Auf 10 Jahre gerechnet ist das immer noch knapp die Größenordnung des 9/11-Anschlags.
@Erik: Genau. Das (AKW\’s) ist ebenfalls ein Risiko mit sehr geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, aber monströser Auswirkung, welches die Auto-/Atomkraftparteien schizoiderweise ohne mit der Wimper zuzucken und Abwiegelung statt Schrecken zu verbreiten in Kauf nehmen.
Tim 18. September 2007 um 16:07
@BrainBomb: \“Geschwindigkeitsunfälle\“ sind solche mit unangepasster Geschwindigkeit. Je nach Wetterlage können auch 100 km/h zuviel sein, und es zählen auch diejenigen Unfälle zu dieser Klasse dazu, bei denen ein 40-Tonner bei Nebel mit 80 km/h in das Stauende rauscht. Und stimmte deine Annahme, dass ALLE diese Unfälle durch ein Tempolimit vermeidbar wären, dann gäbe es in keinem anderen Land auf der Autobahn tödliche Unfälle durch unangepasste Geschwindigkeit. Schön wär\’s.
Kinderbilder 18. September 2007 um 16:08
Die Gesellschaft muss gewisse Risiken tragen, wenn sie ihren hohen standard halten will..
BrainBomb 18. September 2007 um 21:35
@Tim: BMW-Fahrer? 😉
Der VCD ist zwar (auch nur) ein Interessenverband, aber lies doch mal in der angegeben Quelle Seite 7 zu der Unfallentwicklung auf der BAB 24. Außerdem steht da in der Statistik ja noch eine andere Zahl: 428 Getötete auf Streckenabschnitten ohne Tempolimit. Der VCD schätzt aufgrund der sicherlich unscharfen Statistik, wenn ungefähr 25% der Todesfälle mit einem Tempolimit eingepart werden könnten, wären immer noch 165 Menschen weniger gestorben. Das ergibt auf 10 Jahre immer noch eine gut 4-stellige Zahl. Und mir scheint auch die Annahme des VCD plausibel, dass bei uns aus politischen Gründen keine geeigneten Statistiken geführt werden. Die von Dir geschätzen Zahlen von 20-30 Todesfällen halte ich auf jeden Fall für zu niedrig. Ich denke deshalb immer noch, dass die Tempolimit-Frage ein schönes Beispiel ist, dass die Politik hier mit zweierlei Maß misst.
Aber egal. Bei solcher Datenlagen kommt halt jeder aufgrund seiner(!) persönlichen zusätzlichen Annahmen zu anderen Schlüssen. Du stimmst mir ja bei der grundlegenden Argumentation zu. Danke. Aber ich finde, man sollte solchen Dingen ruhig mal genauer auf den Grund gehen.
Tim 18. September 2007 um 22:40
@BrainBomb: Treffen wir uns also in der Mitte. Gehen wir von denen 500 um den Faktor 5 runter und von meinen 20 um den Faktor 5 hoch, dann können wir glaube ich beide damit leben. 🙂
BrainBomb 19. September 2007 um 10:22
@Tim. Einverstanden 🙂
Wonko 19. September 2007 um 11:40
Danke dafür!