Früher wählten wir und es gab eine Regierung. Die war entweder Rot, Rot-Gelb (später Rot-Grün) oder Schwarz bis Schwarz-Gelb. Heute entsteht ein Wahlergebnis, das alles möglich macht. Warum? Weil wir zerrissen sind. Und wer ist schuld? Die Medien, die Politik, die Werbung – denn alle reden uns ein, was wir sein sollen.
Ja, denn wir sind alles. Irgendwie. Das Unglück begann damit, dass wir Papst wurden, wir alle. Das ist schon mal nicht so gut am Anfang, weil die katholische Kirche doch eine Menge Regeln auferlegt. Also so nen ziemlicher Hammer gleich zu Beginn der neuen Selbstorientierung. Trotzdem stürzten sich eine Menge Menschen auf die Hoffnung, künftig gemeinsam Urlaub in Castell Gandolfo zu machen und nicht mehr auf Mallorca.
Danach waren wir Kanzler, wir alle. Weil ja irgendwie jeder der gewählt hat, einen Gewinner gewählt hat, weil ja alle Gewählten sich als Gewinner fühlten. Das macht erstmal hochmütig.
Wenn wir aber alle gleichzeitig Papst und Kanzler sind deutet das schon sehr auf eine CDU-Alleinregierung (wegen des C) hin, was aber nicht der Fall ist. Folge: schwerste Schizophrenie.
Nun aber sind wir alle Deutschland. Das ist einfacher. Denn Deutschland ist ja irgendwie alles. Und nichts. Obwohl so mancher Süddeutsche ja nicht so gerne mit den Ostdeutschen zu tun hat. Und Kölner mögen keine Düsseldorfer und umgekehrt. Als Münsterländer bin ich persönlich auch Anhänger der Bielefeld-Verschwörungstheorie. Und auch das "Manifest" sorgt nicht für Seelenheilung, ruft es doch offensichtlich zur Selbstverstümmelung auf:
"Schlag mit Deinen Flügeln und reiß Bäume aus. Du bist der Flügel. Du bist der Baum."
Das könnte Einstein vielleicht erklären. Der sind wir auch, wir alle. Und genauso Goethe, Schmeling oder Schumacher. Schmeling? Da bekommt der Sponti-Spruch vom boxenden Papst ja echten Wahrheitsbezug. Und dann, um uns endgültig in den Wahn zu treiben, sollen "Wir" auch noch "Wir" sein. Behauptet ein neues "Deutschland-Lied". Wenn wir aber gar nicht wissen, wer wir sind, können wir auch nicht wissen, wer wir sein sollen.
Doch der Verwirrung ist genug, jetzt kommt Klarheit, wie ich bei Kress online (nur für Abonnenten) lese. Und wieder einmal bringt sie uns die "Bild":
Nach "Wir sind Papst" kommt
"Wir sind Fußball". Mit der neuen Initiative von Bild.T-Online können sich Werbekunden im WM-Jahr 2006 gemeinsam mit dem Online-Portal des Springer-Blattes ins rechte Licht rücken. Vorgestellt wird die Aktion im Rahmen der OMD am 28. und 29. September. Insgesamt wird Bild.T-Online sechs Kooperationspakete in den nächsten Wochen für mögliche Kunden bereitstellen.
Puh, wir sind gerettet. Denn wenn wir Fußball sind, wird die Sache ganz einfach. Der regiert sowieso die Welt.
Kommentare
problematik.net 27. September 2005 um 11:43
du bist sowas von deutschland!
man glaubt es nicht !
–
– –
– – –
wir sind ja bald auch alle kanzler!
ne, wie ist das schööön. wir haben uns alle sooo lieb.
sowas hat man lange nicht geseh’n – so schööön, …
SpeexX Blog 27. September 2005 um 13:51
Bin ich nicht! Ich bin Ivo-Sajoscha Kohlmann. Ich bin ein Individuum. Ich bin ich! Was soll ich mit so einer bescheuerten Kollektivierungsscheisse? Soll ich mich nach dieser Kampagne als Ameise fühlen? Wir sind die Borg, oder was? Widerstand ist nicht zw…
Tim 27. September 2005 um 14:05
Die Zerrissenheit, die du richtig diagnostizierst, hat nichts mit den Medien zu tun. Sie ist ein Ausdruck der Realität in der postindustriellen Gesellschaft, wie Franz Walter in der SZ kürzlich geschrieben hat. Zitat: „Das Signum der postindustriellen Gesellschaft ist nicht mehr die Bündelung und der staatlich organisierte Ausgleich von Gruppeninteressen, sondern die soziokulturelle Polarisierung, der Wohlstand- und Erlebnisgraben zwischen Gewinnern und Losern dieses Systems.“
Meinung 27. September 2005 um 15:39
Werbe- und Medienkampagne „Du bist Deutschland“ gestartet. Du bist fast alles.
„Hey, Du Einstein“
Deutschland bekommt jetzt ein anderes Gesicht verpasst. Wenn es nämlich nach dem Gusto der Initianten der Werbe- und Medienkampagne „Du bist Deuts…
webseeings 27. September 2005 um 17:14
Gerald Asamoah, Reinhold Beckmann, Bobby Brederlow, Yvonne Catterfeld, Sarah Connor, Wojtek Czyz, Justus Frantz + Orchester, Maria Furtwängler, Günther Jauch, Oliver Kahn, Walter Kempowski, Johannes B. Kerner, Oliver Korritke, Walter Lange, Dr. Flor…
hansemann 28. September 2005 um 9:36
Wir sind ja so zerrissen. Wissen nicht ein, nicht aus. Keine Perspektive, wir armen Menschenkinder, wie könnten wir schon eine politische Meinung haben?
Nein, damit machen wir es uns viel zu einfach, Herr Knüwer.
Hinter dem „zerrissen“ steht doch nicht nur die Verteilung der politischen Meinungen auf eine bestimmte Anzahl von politischen Ideen, das Problem ist viel tiefgreifender.
Ein Teil des Problems ist sicher, daß die Wahl zwischen den Idealtypen der Politik heute um ein Vielfaches schwerer ist als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren.
Hatte man damals noch die Wahl zwischen wesentlich klareren Richtungsentscheidungen und auch zwischen waschechten politischen Persönlichkeiten, hat man heute nur Durcheinander.
Keiner blickt mehr durch, wie das heute heißt. Wie auch, die Grenzen der politischen Programme verschwimmen zusehends. Einheitsbrei statt klarer Bekenntnisse heißt die Devise.
Und dann haben wir da ein anderes Problem, nämlich das des identitätslosen Individuums. In dieser schnellebigen Zeit mit jeder Menge gefährdeter Arbeitsplätze, einer viel stärker offenen Zukunft und einem hohen Ausmaß an weggefallener Stabilität kommen Identifikationsfiguren wie unser guter Benedikt oder kollektive Ereignisse wie ein Confederations Cup eine gesteigerte Bedeutung zu.
Wir sind wieder wer, und das scheint heute mehr denn je im Vordergrund zu stehen. Wer nicht wer ist, ist niemand. Und das ist die größte Strafe, zumindest wenn man Angst hat. Und Deutschland ist voll von ängstlichen Menschen.
Dazu kommt, daß es heute sogar teilweise schick zu sein scheint, sich nicht mit der gegenwärtigen Lage auseinandersetzen zu müssen, Stichwort Spaßgesellschaft. Na wo kommt die denn nun plötzlich her?
Man braucht keine politische Meinung mehr, um persönlich akzeptiert zu sein. Man muß nicht mehr selbst aktiv werden, um ein Problem zu lösen, das gleiche Problem hat der Nachbar auch, und irgendjemand wirds schon lösen.
Wenns nicht hilft, kann man ja immer noch jammern, da machen die anderen dann sicher mit. Was heute mehr denn je vom einzelnen Individuum gefordert ist, nennt sich Eigeninitiative und Selbstbestimmung.
Es gibt kein vorgegebenes Programm mehr, keinen Idealtypus des Lebens, keinen amerikanischen Traum mehr.
Alles ist möglich, nichts muss sein. Nichts wird getan werden, es sei denn man macht es selbst.
Wundern Sie sich wirklich über Phänomene wie „wir sind Papst“?
tknuewer 28. September 2005 um 10:41
Ähm… Ich werf noch mal meinen Lieblings-Kierkegaard ein, von wegen: Gute Ironie ist die, die der Adressat nicht erkennt. Natürlich war das nicht ernst gemeint. Vielleicht sollte ich hier künftig mit Smileys arbeiten? 😉
The Fellow Passenger 28. September 2005 um 13:47
„Du bist Deutschland“ ist das Credo einer Imagekampagne die Deutschland neuen Schwung geben soll. Nicht etwa aus den Reihen der Politik stammt diese Idee, sondern es haben sich Medienmacher und andere Wirtschaftsunternehmen zusammengefunden. Die wissen….
Lichtwesen 28. September 2005 um 22:11
Heute abend hatte ich das „Glück“, das erste Mal diese Kampagne im Fernsehen zu sehen. Die Musik identifizierte ich als das Eingangsthema von Forest Gump (einem meiner Lieblingsfilme). Und dann kamen die Beiträge. Ich wußte zuerst nicht, dass es DER Trailer war, über den zur Zeit in Klein-Bloggersdorf so heftig diskutiert wird. Mein Eindruck war, dass es sich hierbei um eine „Aktion Leben“ oder ein Statement von SOS-Kinderdorf war. Bis dann dann der Satz fiel: „Du bist Deutschland“. Die Schnittsequenzen sind gut gemacht, aber der Beitrag ist so allgemeingültig, so neutral. Eigentlich könnte dieser Kampagnenfilm für alles Andere stehen…
Eine Frage, die ich mir bislang noch nicht beantworten konnte, ist, warum „von unten“ gewirkt werden soll, wenn die „da oben“ weiterhin an ihren Rationalisierungsmaßnahmen festhalten.
Es hat nichts mit Angst zu tun, nichts mit dem „identitätslosen Individuum“. Ein Ergebnis könnte nur sein, dass sich eine Wut entwickelt, nach dem Motto „Ja, ich bin Deutschland! Und warum nicht du auch?“, während der Betroffene sich einige Unternehmen und ihr Verhalten auf dem Deutschen Wirtschaftsmarkt ansieht.
Mein Fazit daher ist: „Schöner erster Versuch! Nun probieren wir es noch einmal, aber diesmal besser!“
Creative Director von blank&pleite 29. September 2005 um 11:18
Wer hat denn Lust seinen eigenen Spot per Video zu drehen und ihn uns zu schicken? Wir machen auf www.binichdeutschland.de eine alternative Kampagne zur Aktion dubistdeutschland. Macht uns mit Eurem Statement für Deutschland Mut. Schön pathetisch natürlich und wenn Euch gar nix einfällt, könnt Ihr Euch ja den Kennedy-Ausspruch zu Herzen nehmen: „Frage nicht was die Kampagne für Dich tut, frage Dich, was Du für die Kampagne tun kannst“!!!!
Lichtwesen 29. September 2005 um 16:59
Was sagte Michael Trautmann im aktuellen Artikel im Handelsblatt-Online über uns Blogger? „Die sind immer destruktiv!“
Stimmt! Ich bin in diesem Fall dann auch gerne destruktiv!
Lichtwesen 29. September 2005 um 17:21
*arrrrrg* wußte ich doch, dass ich was vergessen hatte.. 😉
marc 4. Oktober 2005 um 15:15
na da wir jetzt alle dank bild wissen das wir sogar fußball (-werbepakete) sind kann uns doch garnixmehr passieren. bei den werbeuros.
ob deutschland oder nicht: wir sidn €uro
Brain Zapping 8. Oktober 2005 um 12:14
Ich bin verwirrt: Die Medien behaupten seit kurzem „Du bist Deutschland“
Was ist das für ein Deutschland? Welcher Feiertag ist am Montag? Volkstrauertag? Tag der deutschen Benzinpreisabzocke? Am Dienstag kostete 1 Liter Diesel noch 1,099?. Gestern hab….
A2O ? Business pur 9. Oktober 2005 um 14:40
Dass die Weblogs und die Blogosphäre nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen, ist nichts neues. Die Blogosphäre ist ein Haufen Spinner, die immer nur meckern. Zumindest so der Tenor von einem, der maßgeblich für die Kampagne verantwortlich zeichnet, …
Jens 11. Oktober 2005 um 0:18
Jetzt wirds richtig krank! Bis gestern war ich nur schizophren.. Aber morgen gehe ich los und kauf mir einen Rock, denn schließlich sind WIR jetzt Kanzlerin! Wo soll das noch enden? Das zahlt doch keine Krankenkasse..
Ach ja.. Tim.. Franz Walter hat völlig recht, bin allerdings noch am überlegen was der Author uns mit diesen Worten sagen wollte.
So, nehm jetzt mal meine Tabletten, zieh das weiße Jäckchen an, geh zurück in meine Zelle und freu mich auf die WM im Juni 2006. Denn dann sind WIR (schon) wieder wer…
Andreas 18. Oktober 2005 um 2:44
Du bist Deutschland!!
Nicht nur Krank, sondern pervers bis zum Getno!!!!
Wir erleben, dass der Staat sich seine Berechtigung über Meinungsmache via Werbung erkaufen will und dafür unsere Steuergelder ausgiebt.
Wir sehen wie Mitbürger, wie Günther Jauch, welche mehrere Millionen verdienen uns sagen wollen…“Na ihr müsst nur ein wenig besser drauf sein und schon wendet sich das Blatt zum Guten“
Wie pervers sind die Mächtigen geworden dass sie mir ein X für ein U vormachen wollen. Noch dazu kommt die Arbeitgeber nahe „Initiative Deutschland“ von der sich auch nahmhafte Politiker kaufen lassen haben.
Das Spiel nimmt perverse Züge an. Aber bei den Rahmenbedingungen sind wir alle Deutschland. Wir müssen nur feste dran glauben….