Wenn ich mal wieder Lust habe, komisch angeguckt zu werden, verrate ich einem Gesprächspartner, welche (wenigen) Sendungen ich noch im linearen TV schaue: ausgewählte „Tatort“-Kommissare, Livesport und – die „Lindenstraße„. Letzteres seit der ersten Folge vor 30 Jahren.
Es gibt in Deutschland wohl kein anderes Stück Fernsehen, dessen Qualität derart unterschätzt wird – nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch von der zugehörigen Sendeanstalt.
Das zeigte sich auch gestern, als #Lindenstrasselive zum Trending Topic Nr. 1 auf Twitter wurde. Denn zum 30. Geburtstag gab es eine Live-Sendung, die man getrost als Stück TV-Geschichte betrachten darf. Denn nicht nur die Schauspieler agierten live, sogar die Musik wurde parallel dazu gespielt. Und: Es funktionierte mit einer Perfektion, die erstaunlich war. Zum Nachgucken gibt es die Folge hier:
Mit einem Mal war da die „Lindenstraße“ in einer neuen Zuschauerschaft präsent: 1.500 Tweets in 18 Minuten, das hatte #Tatort-Qualität und Quantität. Hier eine Auswertung (vielen Dank für’s Anlegen an Kai Heddergott):
Die Reaktionen waren überwältigend positiv wie in diesem zufällig herausgegriffenen Beispiel:
Da mag man sagen was man will, aber die schauspielerische Darbietung in der #LindenstrasseLIVE war ausgesprochen überzeugend. Sehr gelungen!
— Käthemachete (@Kaethepetete) 6. Dezember 2015
Viele waren darunter, die so etwas schrieben wie Deutsche Welle-Mann Claus Grimm:
Nach 29 Jahren mal wieder @Lindenstrasse gesehen, wegen #lindenstrasseLIVE. Respekt, große Leistung! Evtl schaue ich nächste Woche wieder — Claus Grimm (@GrimmClaus) 6. Dezember 2015
Es dürfte viele überraschen, dass sie nur einen weiteren, besonderen Moment einer Serie sahen, die keine beliebige Seifenoper ist, sondern die vielleicht innovativste Sendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Denn während sich ARD und ZDF ansonsten in Sachen neue Ideen auf Leuchtturmprojekte kaprizieren, versucht die „Lindenstraße“ seit 30 Jahren sowohl inhaltlich wie technisch vorne zu sein – nur hat es kaum jemand bemerkt außerhalb der Fan-Schar.
Die inhaltlichen Innovationen der Anfangsjahre sind bekannt, zum Beispiel der erste schwule Kuss im deutschen Fernsehen. Über die 30 Jahre hinweg blieb die Serie unbequem und strahlte immer Haltung aus: In den vergangenen zwei Jahren spielte die neue Rechte eine bedeutende Rolle, das Thema Umwelt blieb präsent, Gentrification war der Auslöser der Ereigniskette, die nun in der Livesendung Herrn Schiller hinwegraffte. Mit diesem Themenspektrum und ihrer Aktualität ist die „Lindenstraße“ keine Seifenoper, sondern ein fiktionales Format von gehobenem Anspruch.
Natürlich wirkt sie dabei manchmal spießig: Aber so ist der Alltag halt. Ein Großteil unserer Gesellschaft ist nicht hip und glitzernd sondern – spießig. Doch es macht die Serie aus, dass sie über all die Jahre immer die Brücke schlug zwischen großer Weltpolitik und gesellschaftlichen Herausforderungen und dem Alltag der Schrankwandbesitzer. Perfekt passend dazu das Ende der Live-Sendung: Dr. Dresseler im Gespräch mit dem „Weltspiegel“, von der fiktionalen Welt der „Lindenstraße“ ging es ansatzlos zur Terrorangst in Tunesien einer Hungersnot in Ghana und dem Möglichkeiten der Gentechnik.
Und noch eins: Die „Lindenstraße“ war auch das erste regelmäßige, fiktionale Format in Deutschland, bei dem das Internet als Alltag Teil der Handlung wurde. Schon sehr früh suchte Klausi Beimer auf Findhund, während der jüngere Teil der Nachbarschaft sich auf Spacehorst vernetzte (Markennamen müssen weiter vermieden werden), Cybermobbing, Stalking, Online-Kaufsucht, aber auch die digitale Organisation, um gemeinsam etwas zu schaffen – alles schon da gewesen. Als vielleicht erste ÖR-Serie probierte sich die „Lindenstraße“ auch in Crossmedia-Storytelling: Schon 2007 bloggte Andy Zenker aus der – weiterhin nie gesehenen – Ferienwohnung im italienischen Bonassola. Leider blieb das Blog nicht erhalten.
Auch die Kommunikation im Social Web ist Alltag für die Serie.
Rund 180.000 Likes auf Facebook zählt die „Lindenstraße“ und 11.700 Follower auf Twitter, auf Youtube entmutigen nur vierstellige Abrufzahlen die Macher nicht, Instagram ist noch ein zartes Pflänzchen. Überall wird ein rundes Paket geschnürt aus Teasern für kommende Folgen, Blicke hinter die Kulissen, Outtakes und Nostalgie. Und natürlich nutzen die Macher das Social Web zur Kontaktpflege mit Fans: So konnten die einen Nachmittag mit einem der Darsteller gewinnen. Das ist normal, doch per Youtube wurde dann in „Lindenstraße“-Länge erzählt, wie die Begegnung zwischen Fans und Schauspielern verlief:
So wird dann heute schon mal Spannung erzeugt für das kommende Wochenende(zur Erklärung: Mutter Beimers zweiter Ehemann, der nette Herr Schiller, ist am Sonntag nicht nur ums Leben gekommen – sondern anscheinend ermordet worden):
Nach dem dramatischen Tod von Erich: Die Suche nach dem Mörder beginnt…
Posted by Lindenstraße on Monday, December 7, 2015
Nicht nur die Produzenten sind im Social Web aktiv, auch einige der Darsteller haben sichtlich Spaß daran an die und mit den Fans zu kommunizieren. Zum Beispiel Erkan Gündüz:
War das krass heute! Gute Nacht 😎😎😎 #LindenstrasseLIVE @Lindenstrasse pic.twitter.com/qdOsuWa85t
— Erkan Gündüz (@ErkisLife) 6. Dezember 2015
Diese Social Web-Aktivitäten sind im Jahr 2015 auf internationaler Ebene nicht fürchterlich ungewöhnlich. Doch verglichen mit dem, was deutsche Sender ansonsten so veranstalten (erst recht im öffentlich-rechtlichen Umfeld), ist die „Lindenstraße“ ein Vorzeigebeispiel, das aus meiner Sicht nur vom RTLII-Doppel „Berlin Tag & Nacht“ und „Köln 50667“ überboten wird.
Eigentlich also müsste diese Serie gehegt und gepflegt und gefeiert werden. Allein: Da ist nichts.
Es war eine mittlere Sensation, als zum 20-Jährigen tatsächlich mal Trailer gezeigt wurden. Nun die Live-Sendung, allerdings eher dezent beworben. Im Gegenzug gab es über die Jahre viel mehr werbliche Aufmerksamkeit für platte Soap Operas und Telenovelas wie „Marienhof“, „Sturm der Liebe“ oder „Verbotene Liebe“ – jene Serien also, die dafür sorgen, dass das Durchschnittsalter der ARD-Zuschauer weiter steigt. Kenner der ARD werden dies vielleicht erklären können, für ein öffentlich-rechtliches System jedoch ist die Vernachlässigung der „Lindenstraße“ eine Schande.
Erst recht, weil eine andere Vorzeigeserie des deutschen Fernsehens vielleicht gerade an dem scheitert, was das Reiche Hans W. Geißendörfer gut macht: Die RTL-Vorzeigeserie „Deutschland 83“ verzeichnet abstürzende Quoten.
Das ist traurig, denn „Deutschland 83“ ist tolles, packendes Fernsehen von einer Qualität, wie es sie nur selten aus diesem Land gibt. Trotzdem schalten immer weniger Leute ein. Thomas Lückerath bemängite in seinem Mediendienst DWDL richtigerweise, dass RTL auf verstaubtes Marketing setzte: Plakate, Trailer, Print-Anzeigen – Digitales fehlte. Zitat DWDL:
„Der Kölner Sender ist immer noch nicht aufgewacht: In Programm und Vermarktung orientiert man sich weiterhin viel zu oft an seinem schrumpfenden Stammpublikum. Wenn RTL sich weiterhin auf Rezepte aus seinen besten Tagen verlässt, ist der Sender allerdings bald verlassen. Umso ärgerlicher ist da der absolut fahrlässige Umgang mit „Deutschland 83“. Hier hat man eine hervorragende Serie und statt sonst so oft öffentlichem Gegenwind sogar positiven Rückenwind. Alles Zutaten, die dafür geeignet sind, um verlorene Zuschauer für sich zurückzugewinnen. Man hätte diese Zielgruppe nur auch ansprechen müssen statt sie zu ignorieren.“
Diese digital-affine Zielgruppe hätte separat angesprochen werden müssen. Noch immer scheint man bei RTL nicht begriffen zu haben, wie sehr die mögliche Zielgruppe für eine so hochwertige und geistvolle Serie wie „Deutschland 83“ dem Sender nicht zutraut, eine so hochwertige und geistvolle Serie produzieren zu können. „Bild-Mann Florian Witte brachte jenes Gefühl, eine RTL-Serie zu gucken, auf den Punkt:
Gespannt auf #Deutschland83. Strange wieder ne Serie auf #rtl zu gucken. Als ob man zum telefonieren wieder in ne Telefonzelle geht — Florian Witte (@florianwitte) 26. November 2015
Heute nun fragen die Macher von „Deutschland 83“ die Zuschauer um Rat. Es ist bezeichnend, dass sie dies zwar auf Facebook tun – aber eben keine eigene Page haben. Als Krücke nutzen sie die Seite von UFA Fiction, die es auf magere 8.800 Likes bringt:
Liebe Serienfans, es ist kein Geheimnis, dass uns Deutschland 83 besonders am Herzen liegt. Wir sind von der Serie ü…
Posted by UFA Fiction on Friday, December 4, 2015
Tja, was könnte die UFA tun?
Vielleicht sich ein Beispiel an der „Lindenstraße“ nehmen.
Kommentare
Links anne Ruhr (08.12.2015) » Pottblog 8. Dezember 2015 um 6:27
[…] Die Lindenstraße – ein Stück unterschätztes Qualitätsfernsehen (Indiskret… – […]
Lesenswerte Links – Kalenderwoche 50 in 2015 > Vermischtes > Lesenswerte Links 2015 11. Dezember 2015 um 8:01
[…] Die “Lindenstraße” – ein Stück unterschätztes Qualitätsfernsehen meint Thomas und würdigt den 30. Geburtstag eines Dauerbrenners im TV. […]
Linktipps der Woche – Teil 13 | DAPR 11. Dezember 2015 um 11:37
[…] komplett live gespielten Folge zum 30. Geburtstag #Trend geworden ist. Sein Beitrag über “ein Stück unterschätztes Qualitätsfernsehen” mit der Live-Folge vom 06. […]